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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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sie aus dem Elend der Tuchfabrik erlösen. Benito konnte es ihnen nicht verdenken. Die Arbeiter wurden geschunden wie Sklaven, wer nicht schnell genug war, dem machte die Peitsche Beine, und nicht selten geschah es, dass einer in der Werkhalle zusammenbrach und starb.
    In der Armee hingegen lockten Aufstiegsmöglichkeiten, denn wie keine andere Institution in Mexiko sah sie über Rassegrenzen hinweg. Wer hier Mut bewies, konnte erreichen, dass man die Farbe seiner Haut vergaß. General Paredes war das beste Beispiel. Er war Mestize, Sohn einer Nahua, und angeblich stand ihm sein Erbe ins Gesicht gebrannt. Miguel betete den Mann förmlich an, obgleich dieser dem konservativen Lager entstammte und sich bei der Oberschicht lieb Kind machte. Sobald Miguel Parolen vom einig kämpfenden Mexiko hörte, schien er jeden Sachverstand zu verlieren. Natürlich hatte er auch zu den Ersten gehört, die sich freiwillig in Paredes’ Armee gemeldet hatten.
    »Mexikaner müssen wir doch erst werden«, hatte er zu Benito gesagt. »Nicht Criollos, Gachupines, Indios und Mestizen, sondern das eine Volk Mexikos, das sich sein Vaterland von keinem rauben lässt. Dieser Krieg wird uns zusammenschmieden.«
    Carmen griff über den Tisch und nahm Benitos Hand. Er hatte ihr gesagt, er denke an Krieg und an Paredes, und es war eine Lüge gewesen, aber jetzt war es keine mehr. »Du hast Angst um Miguel, nicht wahr?«, fragte sie.
    Benito nickte. So verschieden sie waren, Miguel war der Mensch, den er am meisten liebte. Wann immer der Ältere ihm auf die Nerven ging, wann immer er dessen ewige Propagandareden satthatte und zu einer patzigen Antwort ansetzte, trat ihm ein Bild aus ihrer Kindheit vor Augen. Miguel, wie er selbst von der Mutter fortgeschickt, mit einem Schild um den Hals auf dem Weg zu den Deutschen. Miguel, der ohne den heulenden kleinen Bruder gewiss bessere Arbeit gefunden hätte und dessen Hand der seinen immer wieder entglitt, weil er zu langsam war. Und dann Miguel, der stehen blieb und sich nach ihm umdrehte, der ihm über den Abstand hinweg die Hand entgegenstreckte und ihm zurief: »Hola, kleiner Bruder, nicht weinen. Schau her, ich warte doch auf dich.«
    Er würde das nie vergessen. Es war ein Teil von ihm, mit seinem Herzen verwachsen, das Bild der großen Hand, die sich für die kleine öffnete. Zuweilen kam es ihm in diesen Tagen vor, als wären ihre Rollen vertauscht, als müsste er über den Abstand hinweg Miguel die Hand hinstrecken und ihm zurufen: »Hola, großer Bruder, nicht verrennen. Schau her, ich warte doch auf dich.« Stand er nicht dort in jenem Block von Soldaten, der – von einer Unzahl berittener Offiziere kommandiert – die Front der Tribüne bewachte? Das letzte Licht verglomm, und der Platz füllte sich mit Menschen. Im Gedränge war nur schwer ein Gesicht zu erkennen. Dennoch hätte Benito gern den Namen seines Bruders zu dem Mann in der blau-roten Uniform hinübergerufen und die Hand nach ihm ausgestreckt.
    Es war Miguel gewesen, der ihn heute Abend herbestellt hatte und der, sobald sein Ausgang begann, zu ihnen stoßen wollte. »Nur diesen einen Abend spricht Paredes in Veracruz. Wir müssen ihn hören, kleiner Bruder, diesen Mann müssen wir von Angesicht zu Angesicht erleben!«
    Benito machte sich nichts aus Volksaufläufen, aus dem Geschrei der Redner so wenig wie aus dem erhitzten Gejohle der Menge. Er war Miguels wegen hergekommen. Wer konnte wissen, wann sein angebeteter Paredes ihn von hier abberufen würde und ob sie vorher noch einmal Gelegenheit hätten, miteinander zu sprechen? Plötzlich wünschte er, er wäre ohne Carmen gekommen, aber das wäre grausam gewesen. Er hatte ohnehin nie Zeit für sie, und Carmen störte nicht mehr als ein Schatten. Sie schwieg, wenn er sie schweigend wollte, und beklagte sich nie.
    Wie lange wartete sie jetzt schon geduldig, dass er ihr mehr als ein Nicken zur Antwort gab? »Ja«, rang er sich ab, »ich habe Angst um Miguel, aber darauf brauchst du nichts zu geben.«
    »Weshalb sollte ich nichts darauf geben, dass du Angst hast?«
    »Weil es ja sein kann, dass alles im Sande verläuft. Und weil es kein Thema ist, über das man mit seinem Mädchen spricht.«
    Immer neue Einheiten von Soldaten schlugen im Marschschritt eine Schneise in die Menge und bildeten einen Ring um die Tribüne. Wie zuvor kam es Benito vor, als würden sie von viel zu vielen Offizieren zu Pferd kommandiert. Jene trugen Uniformen von geradezu lächerlicher Pracht, während die

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