Im Land der gefiederten Schlange
englischen Kaufmanns und hockte des Nachts über Büchern, weil er entschlossen war, in der Tuchhalle nicht sein Leben zu verschleudern. Wenn er einen Centavo übrig hatte, legte er ihn für die Zukunft beiseite, aber Carmen hatte ein bisschen Abwechslung verdient. Sie war ein tapferes Mädchen. Weil ihr Bruder Juan nicht in der Lage war, für ihren Unterhalt zu sorgen, zerschnitt sie sich die Finger beim Zigarettendrehen, war sich für keine Arbeit zu fein und hielt zudem die Hütte der Geschwister so blitzsauber, dass man vom Boden hätte essen können.
Zu alldem ertrug sie einen Lumpen wie ihn, der nicht begriff, was für ein verdammtes Glück er mit ihr hatte. »Wie lange soll denn Carmen noch bei diesem Nichtsnutz von Juan bleiben?«, hatte Miguel ihn erst kürzlich gescholten. »Ich weiß, du bist jung, aber Carmen ist zwei Jahre älter, und sie braucht jemanden, der für sie sorgt. Du kannst doch das arme Ding nicht auf ewig mit Versprechungen abspeisen.« Dabei hätte Carmen sich mit Versprechungen gewiss zufriedengegeben, aber von Benito bekam sie nicht einmal die.
Er wusste, er hatte Carmen nicht verdient. Er sagte es ihr oft genug, doch zur Antwort erhielt er nie etwas anderes als ihren liebevollen Blick, ein Streicheln über die Wange und ein paar zärtliche Worte. »Ich finde, du hast mich hundertmal verdient«, sagte sie und beschämte ihn damit noch mehr.
Eine Frau, eine Ausländerin, die gewiss an die dreißig Jahre alt, aber schön und exquisit gekleidet war, trat am Arm eines enorm beleibten Mannes an einen Tisch. Während sie ihren Rock ausbreitete und sich auf dem Stuhl, den der Ballonbauch für sie abrückte, niederließ, warf sie Benito einen Blick zu, grünäugig wie eine Katze, die eine Schüssel mit Rahm entdeckt. Dass Frauen ihn mit solchen Blicken bedachten, war Benito nicht neu. Helen sah ihn ebenso an, mit demselben unverhohlenen Verlangen. Sie beließ es nicht beim Ansehen. »Auf eure Weise seid ihr durchaus schöne Geschöpfe«, hatte sie heute Vormittag zu ihm gesagt und ihm über die Hüfte gestrichen wie über die Kruppe ihres Rappwallachs. »Hat euer Schlangengott euch nach seinem Bilde geschaffen, so geschmeidig und schlank?« Dazu ließ sie ihr helles Lachen erklingen, das Benito einst so anziehend gefunden hatte.
Er hätte ihr sagen können, dass er Katholik war und nicht an Heidengötter glaubte. Hätte er gewollt, hätte er ihr verbieten können, von seinem Volk zu sprechen wie von einer Pferderasse. Sie war zwar die Frau seines Dienstherrn, aber er hatte eine Hand für Pferde und würde etwas anderes finden. Er sagte nichts, sie war es ihm nicht wert. Mochte sie ihn sich halten wie einen hübschen Affen, sie waren quitt, denn er hielt sie sich nicht anders. Er empfand Verachtung für das, was sie taten, aber er ging dennoch immer wieder zu ihr. »Du bist ein Mann, dir schmeckt die Liebe«, hatte Miguel gesagt. »Und dagegen spricht ja auch nichts, aber deiner Carmen kannst du trotzdem ein Heim geben.«
Benito sah die kaffeetrinkende Carmen an. Sie war Gold wert und er ein Schuft, weil er sie betrog. Er wünschte, er hätte für Carmen empfinden können, was er für Helen empfand, für die rotgelockte Fremde, die vom Nebentisch zu ihm herüberblinzelte. Begierde. Lust. Ein Gefühl, das nicht ausschließlich rein und rechtschaffen war.
Einmal hatte er so für sie empfunden, an dem Tag, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war, aber damals war er noch ein Kind gewesen und hatte seinen Kaffee süß und mit Zimt getrunken.
»Woran denkst du, Schöner?« Sie lächelte noch immer.
»An den Krieg«, log Benito. »An General Paredes.«
Sie waren auf den Zócalo gekommen, um den neuen Präsidenten sprechen zu hören. Mariano Paredes, der nach allen Regeln der Kunst gegen Herreras Friedensbestrebungen gewettert hatte, war zum Jahreswechsel mit einem Heer von sechstausend Mann nach Mexiko-Stadt marschiert und hatte den besonnenen Herrera gezwungen, die Präsidentschaft niederzulegen. Seitdem hatte er selbst das höchste Amt im Staate inne. Es hieß, er wolle die Monarchie wieder einführen, weil nur ein König oder Kaiser darauf hoffen durfte, dass ihm die gekrönten Häupter Europas gegen den Nachbarn im Norden zu Hilfe eilten. In jedem Fall hatte er geschworen, Mexikos Nordgebiete mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.
Überall wurden Männer für die Armee geworben. Auch unter Benitos Kameraden waren viele begeistert dem Ruf gefolgt, weil sie hofften, der Kriegsdienst werde
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