Im Land der gefiederten Schlange
Setzen ihre Röcke zu drapieren. Aber die Besucherin war kein kleines Mädchen. Sie war Zoll für Zoll eine Dame, auch wenn sie das Haar in geflochtenen Zöpfen trug und den Leib der erblühenden Frau in einem Kinderkleid versteckte. Der Strohhut mit dem Gazeschleier, den Mädchen wie sie zu tragen pflegten, lag achtlos hingeworfen neben ihr.
Benito nahm die letzten drei Stufen im Sprung und blieb vor der Besucherin, die auf der Schwelle saß, stehen. Wie ein Speer schoss ihm der Schmerz in die Hüfte. Das Wort war seinen Lippen entwichen, ehe er es aufhalten konnte: »Ichtaca.«
10
Marthe hatte Kopfschmerzen, und sie hatte entsetzlich schlecht geschlafen. In den Nächten vor jenen Tagen schlief sie immer schlecht, doch obendrein war in dieser Nacht die Llorona um die Häuser der Siedlung gestrichen, zum ersten Mal seit Jettes Tod. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Marthe sich gegen den Glauben an die Weinende, die vor Schmerz um ihre Kinder den Mond anheulte, aus Leibeskräften gewehrt hatte. Aber die Jahre waren verstrichen, und das Geheul war geblieben, und Marthe hatte gegen so vieles zu kämpfen, dass ihr für diesen Kampf die Kraft fehlte.
Sie fragte sich nicht mehr, wer das unheimliche Geräusch verursachte, das sie aus dem Schlaf riss und mit rasendem Herzen wach hielt. Es zu hören, während zwei Häuser weiter ihr Vetter Fiete vor Kummer um sein Kind den Verstand verlor, verursachte ihr Gänsehaut. Neben ihr lag Peter und schlief. Wie meist hatte er bis spät in die Nacht über Arbeit gesessen und war, kaum dass er im Bett lag, eingeschlafen. Sein dichtes Haar auf dem Kissen war noch so haselnussbraun wie an dem Tag, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war, nicht wie bei Christoph schon von verräterischem Grau durchzogen.
Der Wunsch, das Haar zu berühren, wurde übermächtig. Sie streckte die Hand aus, zog sie aber gleich darauf zurück. Es war entwürdigend, ihn zu berühren, da er es nie mehr tat, und zudem war das alles schon so lange her. Selbst wenn ihrer beider Haar noch braun war – sie würden kein Kind mehr bekommen.
Und das soll mir recht sein, dachte Marthe trotzig. Wir haben Katharina. Wenn eine andere dir hundert Kinder geschenkt hätte – ich habe dir eine Tochter geschenkt, wie du keine bessere findest. Bei diesem Gedanken fiel ihr wieder ein, dass morgen einer von jenen Tagen sein würde, in denen die Vergangenheit aufstand und ihr Recht forderte. In jedem Jahr kehrte der Tag wieder, so sicher wie Weihnachten, so unausweichlich wie der Tod. Sie drehte sich von Peter weg und lag wach, bis das Lärmen der Stadt einsetzte. Durch die Ritzen des Fensterladens kroch die Maisonne, und schwer wie Blei legte sich Hitze auf den Raum.
Marthe bat die Sanne, ihr einen mit Schokolade gemischten Kaffee zu brauen, der so stark war, dass der Löffel darin stand. Für gewöhnlich duldete sie in ihrer Küche keine mexikanischen Rezepte, aber dieses Gebräu schlug wie ein Hammer wach. Mit dem Kaffee im Blut und einem schmerzhaften Pochen an den Schläfen wartete sie, bis alle Bewohner aus dem Haus waren. Peter ging in seine Brauerei und Katharina zum Sprachunterricht bei einer schottischen Jungfer, den sie um jeden Preis hatte nehmen wollen. Die Lise begleitete sie, und die Sanne schickte Marthe zum Geflügelmarkt. Erst als in den Räumen Stille herrschte, wagte sie sich daran, das Päckchen zu packen. Die Gegenstände hatte sie das Jahr über im Schließfach ihres Sekretärs gesammelt, und den Brief hatte sie an den letzten Abenden aufgesetzt. Sie breitete alles auf einer Bahn Leinen aus, sah jedes Stück noch einmal an, schlug dann das Leinen zusammen und umwickelte es mit einem Strick.
Sie wollte das Päckchen eben verknoten, als es an der Tür klopfte. Erschrocken ließ sie den Strick fahren, und das Leinen faltete sich wieder auf. Marthe raffte alles zusammen, stopfte die unersetzlichen Dinge in den Besteckkasten, stülpte eine der Schutzhauben gegen Insekten darüber und eilte zur Tür. War Peter zurückgekommen, hatte er seinen Schlüssel vergessen? In all den Jahren hatten Alpträume ihr solche Szenen vorgegaukelt. Aber vor der Tür stand Traude, die Stirn gefurcht und die Hände in die Seiten gestemmt. »Ich dachte schon, du bist nicht daheim.«
»Da du es ansprichst, ich wollte gerade gehen«, erwiderte Marthe und wagte einen verrückten Herzschlag lang zu hoffen, die andere werde ihres Weges ziehen.
Traude aber dachte nicht daran. »Ich wollte etwas mit dir besprechen«, sagte sie
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