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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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allein zu lassen, aber wer solchen Schwüren traute, der hatte nie ein Kind gehabt, zumindest nicht in einer Stadt wie Veracruz, einem Schlangenbecken, in dem alles außer Rand und Band geriet. Man konnte kein junges Mädchen in einer Siedlung von vier Straßenzügen einsperren. Man konnte auch nicht ihre Tür verriegeln, es sei denn, man wollte sie sich zur Feindin machen, und das hätte Marthe nicht ertragen. Sie ließ Katharina ihre Freiheit, obgleich die Angst ihr die Luft abschnürte, und es blieb ihr nur zu beten, dass die Lise nicht noch einmal ihre Pflicht vernachlässigte.
    Letzthin war Marthe dazu übergegangen, die Lise wie eine Freundin der Familie zu behandeln. Sie hatte ihr einen Teil ihrer Sorgen anvertraut und sich des Öfteren mit ihr beraten. Gewiss würde Lise doch jetzt, da sie praktisch eine Verwandte war, auf das ihr anvertraute Mädchen achten? Marthe schreckte aus ihren Gedanken, weil zwei Beamte der Hafenaufsicht sich ihr in den Weg stellten. Scharf musste sie das Pony zügeln. »Die Straße wird abgesperrt, Señora. Sie können hier nicht weiterfahren.«
    »Ach, wieder einmal«, entfuhr es Marthe höhnisch. »Hören Sie, was Sie mit Ihrer Straße machen, schert mich nicht, ich muss zum Tabakskai, und genau dorthin werde ich fahren.«
    »Ich denke, das werden Sie nicht.« Der ältere der Beamten verzog sein Affengesicht zu einem hässlichen Lächeln. »Das Verbot gilt für alle, auch für Taftpüppchen. Sie können froh sein, dass wir Ihren Wagen keiner Durchsuchung unterziehen. Wir sind nämlich beauftragt, nach nordamerikanischen Spionen zu suchen, die sich überall durch Ritzen schmuggeln.«
    »Was erlauben Sie sich?« Marthe riss die Peitsche aus dem Halter und sprang auf.
    Der Affengesichtige grinste weiter, trat aber immerhin einen Schritt zurück. »Erzählen Sie mir nicht, Sie täten so was nicht, weil Sie Röcke tragen. Ich traue keinem von euch Bleichgesichtern, egal, ob Mann oder Frau.«
    Marthe verschränkte die Hände, um dem Flegel keine Lektion mit der Peitsche zu erteilen. Wenn die Hafenaufsicht sie gefangen setzte, war das Päckchen verloren, und das durfte nicht geschehen. Sie reckte sich auf Zehenspitzen, schirmte die Augen gegen die blendende Sonne und spähte über die Absperrung hinweg. Der Kerl, den sie seit mehr als zehn Jahren einzig unter dem Namen »Carlos« kannte, war nirgends zu entdecken, aber diese Indios sahen sich alle viel zu ähnlich, um sicher zu sein. Einer von ihnen, ein gedrungener Kerl, der wie sonst Carlos an der Kaimauer lehnte, wurde auf sie aufmerksam. Er blickte auf, zeigte mit beiden Händen auf sich und verzog fragend das Gesicht.
    Carlos war ein kleiner vierschrötiger Mann, aber dieser hier schien noch kleiner und jünger zu sein. Instinktiv winkte Marthe ihm trotzdem, gebot ihm mit einer Geste, zu ihr zu kommen. Der Mann zögerte nicht. Er setzte seinen Sombrero auf und trottete auf sie zu.
    Der affengesichtige Beamte ließ eine dreckige Bemerkung fallen, aber wenigstens wandten die beiden sich von Marthe ab und widmeten sich dem nächsten Gespann, das vor der Sperre wartete. Dieses gehörte einem Bauern, der Hühner in Käfigen auf seinem Karren gestapelt hatte und lauter als sein Federvieh schimpfte. Der Lärm verschaffte Marthe ein Mindestmaß an Deckung.
    In der Tat war der Mann jünger als Carlos, und sein spitzes Gesicht hatte etwas von einer Ratte, fand Marthe. Er blieb vor der Absperrung stehen und stützte beide Arme auf den Balken. »Señora Chartmann?«, fragte er aus dem Schatten der Hutkrempe.
    Marthe nickte. »Wo ist Carlos?«
    Die Ratte wiegte den Kopf mit dem ausladenden Hut. »Carlos ist nicht mehr da. Krieg jetzt, Sie verstehen? Mexikos Männer müssen kämpfen, nicht Postillion spielen.«
    Sie hätte ihm etwas an den Kopf werfen wollen, sie war dieses ganzen Volkes und seiner undurchdringlichen Tieraugen müde. Und des Geredes von Krieg war sie noch müder, weil es allmählich nichts mehr half, sich zu sagen, das alles ginge sie nichts an.
    Bevor ihr einfiel, was sie hätte sagen können, streckte die Ratte eine klauenhafte Hand aus. »Carlos schickt mich«, sagte er. »Juan heiß ich. Ich bringe Päckchen nach Querétaro.«
    Alles in ihr sträubte sich. Wie konnte sie das kostbare Päckchen diesem Kerl anvertrauen, der ihr aus tiefstem Herzen zuwider war? Aber andererseits, wie konnte sie es nicht tun? Unter Flüchen wendete der Geflügelbauer seinen Karren und trieb das Maultier zurück. Das Trappeln von Stiefeltritten

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