Im Land der gefiederten Schlange
Centavos müssen schon genug Leute satt werden.«
»Aber du tust es?«
»Bleibt mir denn anderes übrig?«
Entwaffnend strahlte Miguel. »Behandle sie mit Achtung«, sagte er. »Wenn ich zurückkomme, heirate ich sie. Ginge ich zur regulären Truppe, könnte ich sie im Tross mitnehmen, doch bei der Guerilla ist das nicht möglich. Ich werde euch aber meinen Sold schicken, und Carlos ebenfalls, sobald wir welchen erhalten. Nur, du weißt ja …«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Benito. »Mit dem Sold kann es dauern, weil euer Paredes erst den Geldsäcken, die ihn an die Macht gebracht haben, die Hände salben muss.«
»So ist es doch nicht …«
»Es soll sein, wie es will, mich interessiert es nicht. Hast du der Mutter und Xochitl gesagt, dass du gehst?«
»Nein«, gestand Miguel kleinlaut. »Ich war gestern bei ihnen, und Mutter hat sich wieder so gebärdet, da habe ich es nicht übers Herz gebracht.«
Ja, Mutter hat sich wieder so gebärdet, dachte Benito. Sie hat dir wieder beteuert, dass du ihr Ein und Alles bist und dass sie ohne dich nicht leben will, und deshalb überlässt du es mir, ihr mitzuteilen, dass ihr Augapfel von neuem seinen Kopf in die Schlinge steckt. Vor Jahren wolltest du gegen die zentralistische Regierung kämpfen, und jetzt kämpfst du mit ihr gegen eine unbesiegbare Macht. Ist es das, was Mexiko krank macht, dass so viele für es sterben und töten wollen, aber keiner für es leben?
»Benito?«
»Ja, ja«, erwiderte er. Sie waren vor dem Haus, in dem er wohnte, angekommen. Ohne hinzusehen, fingerte er den Schlüssel aus dem Gürtel. »Ich gehe zur Mutter und lasse mir den Kopf abreißen, weil ich dich nicht aufgehalten habe. Nur wann ich Zeit dazu finde, weiß ich nicht.«
»Es ist ja nicht eilig.« Miguel strich ihm über die Schulter. »Und dass ich dich feige genannt habe, vergiss, in Ordnung?«
»Ich bin feige«, erwiderte Benito gleichmütig.
»Das ist doch nicht wahr. Du bist nur … nur ein bisschen verzagt, weil diese Schweine dir das angetan und dir den Mut gebrochen haben, aber wenn ich erst wiederkomme …«
»Wenn du wiederkommst, heiratest du deine Inez«, fiel ihm Benito ins Wort und schob die Haustür auf. »Und mich lässt du sein, wie ich bin, mir passt es so nämlich gut.«
Ehe er einen Schritt in den dunklen Hausflur setzen konnte, stürmte ihm seine Wirtin entgegen. Doña Esmeralda war eine Billardkugel von Frau, die auf winzigen Füßen trippelte und ihm nur knapp bis zur Brust ging. »Don Benito«, rief sie, und als sie hinter ihm Carmens Gesicht auftauchen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen, »Doña Carmencita, ich fühle mich schuldig, aber ich habe alles versucht. Die junge Dame ließ sich nicht abwimmeln.«
Die junge Dame? Wer sollte das sein? Vermutlich würde kein Mensch Helen, die über dreißig war, so nennen, und außerdem käme Helen nicht hierher. Wer war es dann? Die Wirtstochter aus dem Perro Sucio? Naña, die Mulattin, die auf der Plaza Chilis verkaufte? Beide hätte Doña Esmeralda kaum als Damen bezeichnet, und zudem kannte sie ihre Namen. Sie waren im Barrio geradezu berühmt.
Benito drehte sich nach Carmen um. Die stand reglos im Türrahmen, nur in ihrem Gesicht stand zu lesen, wie verletzt sie war. Falls irgendwer hier eine Dame war, dann sie, und wenn sie hundertmal dunkle Augen und Haut wie feuchter Ackerboden hatte. »Sag nichts«, gebot sie ihm. »Rede dich nicht heraus. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du das vor mir nötig hättest.«
»Carmen …« Er brach ab. Sie hatte einen Besseren verdient, keinen Neunzehnjährigen, der sich wie hundert fühlte, keinen Wüstling, der nicht lieben konnte.
»Wenn du willst, gehe ich.«
Er schüttelte stumm den Kopf. Inez kicherte. »Wo ist denn nun diese Dame?«, fragte Miguel in einem hilflosen Versuch, sich nützlich zu machen.
»Ich wollt sie doch wegschicken!«, jammerte Doña Esmeralda. »Aber sie bestand darauf, sie habe Don Benito etwas Wichtiges mitzuteilen, und sie gehe nicht eher, als bis sie’s ihm gesagt hat. Dort oben auf dem Absatz hockt sie.« Sie wies die gewundene Treppe hinauf.
An Miguel vorbei begann Benito die Stufen zu erklimmen. Das Haus besaß drei Stockwerke, und er musste fast bis nach oben steigen, ehe er die Füße der Besucherin zu sehen bekam. Sie steckten in ordentlich gewienerten Schnürschuhen. Von den Beinen in weißen Strümpfen ragte zu viel unter dem Saum hervor, wie es bei kleinen Mädchen vorkommt, die nicht darauf achten, beim
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