Im Land der gefiederten Schlange
und trat an Marthe vorbei ins Haus.
»Geht es um Geld?« Es musste ja um Geld gehen, denn keine der Verwandten, weder Traude noch Inga oder Dörte, wählte Marthe bei Herzensdingen als Vertraute. War sie ehrlich, so war das schon immer so gewesen. Selbst in der Heimat hatte sie nie zu den Mädchen gehört, die in Winkeln miteinander tuschelten. Marthe hatte keine Freundinnen. Sie hatte immer nur Vera gehabt.
»Nein, es geht nicht um Geld«, antwortete Traude. »Auch nicht um die Daguerreotypie, die du mir gestohlen hast. Ich komme in einer Familienangelegenheit, in der dein Einschreiten vonnöten ist.«
Marthe dachte an das Päckchen im Besteckkasten und erlitt einen Schweißausbruch. Wenn Traude sie aufhielt, was für Folgen würde das nach sich ziehen? »Kann das nicht warten?«, herrschte sie Traude an. »Ich habe eine Verabredung in der Stadt.«
»Eine Einladung ist ergangen«, sagte Traude, als hätte sie Marthe nicht gehört. »Und zwar zum Tanztee im hanseatischen Konsulat von Veracruz.«
»Das freut mich für dich«, behauptete Marthe hastig, obwohl ihr im Augenblick alle Tanztees und Konsulate gleichgültig waren.
»So, tut es das?«, kam es nadelspitz von Traude. »Dann dürfte deine Freude von kurzer Dauer sein. Die Einladung galt nämlich mitnichten meiner Tochter, wie man wohl annehmen dürfte, nachdem der Konsul samt seiner fragwürdigen Sippe in meinem Haus zu Gast war. Haben diese Leute, weil sie zu lange im Urwald lebten, die Manieren von Wilden angenommen, oder schickt es sich nicht länger, sich für Gastfreundschaft zu revanchieren? Ich frage mich ohnehin, wer die Kandidaten für Konsulatsposten auswählt. Prüft dabei niemand die Familie des Bewerbers und auch nicht, ob er das Feingefühl für einen solchen Posten aufbringt? Gehört es sich beispielsweise, einen Tanztee zu veranstalten, wenn befürchtet werden muss, dass demnächst Krieg ausbricht?«
»Der Krieg betrifft doch nicht uns«, erwiderte Marthe matt.
»Und wer sagt dir das? Haben wir nicht schon oft geglaubt, etwas, das dieses verwünschte Land anging, beträfe nicht uns? Von einem Konsul darf ich ja wohl mehr Voraussicht erwarten.« Zu Marthes Entsetzen ließ sie sich auf dem Polsterstuhl nieder und hatte sichtlich nicht vor, allzu bald von dort aufzustehen.
»Traude«, begann Marthe beschwörend, »ich begreife beim besten Willen nicht, warum du um jeden Preis auf diesen Tanztee willst, obwohl du ihn so unmöglich findest. Und mir ist auch nicht klar, ob denn nun eine Einladung ergangen ist oder nicht …«
»O ja, die Einladung ist ergangen«, schnitt ihr Traude den Faden ab. »Allerdings nicht an Fräulein Helene Hartmann, wie es sich gehört hätte.«
»Sondern? An wen?«
»An Fräulein Jette Christine Hartmann«, verkündete Traude und schnaufte.
Es löste einen seltsamen Schmerz aus, Jettes vollständigen Namen zu hören, da es doch jeder vermied, die Tote zu erwähnen. Der Name, einst mit Liebe gewählt, war nutzlos geworden, ein Überbleibsel, das mit der Toten verrotten und vergessen werden würde. Hannes Theodor Lutenburg – erinnerte sich außer ihr noch irgendwer daran, dass dieser Name zu einem Menschen gehört hatte? »Jette kann ja nicht gehen«, brachte sie mühsam hervor. »Von der Einladung hat sie nichts.«
»Ha«, kam es von Traude, als hätte sie auf diese Bemerkung gewartet. »Willst du damit sagen, die Einladung müsse mir für meine Tochter übergeben werden, der sie im Grunde gebührt?«
Auf diese Idee war Marthe in ihrer Sorge um das Päckchen nicht gekommen, aber ihr fiel auch nichts ein, was dagegen sprach. »Warum nicht?«, meinte sie deshalb nur.
»Warum nicht? Das werde ich dir sagen: weil Dörte die Einladung nicht herausrückt. Weil sie der Ansicht ist, wenn ihre eine Tochter nicht hingehen kann, schickt sie eben die zweite. Obwohl die Familie in Trauer ist! Und obwohl es mein Haus war, in dem der Konsul der Familie Hartmann überhaupt begegnet ist.«
Marthe zwang sich zu überlegen. Wenn sie in dieser leidigen Sache nicht bald ein Urteil sprach, würde sie Traude nie loswerden, der Bote würde den Treffpunkt verlassen, und ihr blieb keine Chance, ihn in dieser bodenlosen Stadt zu finden. »Nun ja«, begann sie, »dass Dörte die Einladung für Luise will, ist ihr ja nicht zu verdenken. Vermutlich hätten wir dasselbe getan.«
»Willst du mir erzählen, du stellst dich auf die Seite von Dörte? Einer Mutter, die kaum ihr Kind unter die Erde gebracht hat und schon wieder an
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