Im Land der gefiederten Schlange
ins Gesicht sagen«, erklärte sie und stand auf. »Er ist lang wie der Hermann und hat Schultern wie ein Ringkämpfer, er sollte kein Feigling sein, der sich vor Mädchen versteckt, sondern Manns genug, mich anzuhören. Will er mich dann immer noch wegschicken, mag er es meinetwegen tun.«
Falls Jo noch etwas sagte, hörte sie es nicht mehr, denn sie rannte die Treppe hinunter und aus dem Haus. Wie üblich achtete bei Onkel Christoph und Tante Inga kein Mensch darauf, was sie tat. Für gewöhnlich musste sie die Lise bestechen, wenn sie sich auf die Jagd nach Ben begab. Die Lise sagte der Mutter, sie habe Katharina zur Englischstunde begleitet, und das Geld, das die Mutter ihr für den Unterricht gab, durfte Lise behalten. Sie sparte es. Für eine Passage in die Heimat, sagte sie. Außerdem gewann sie auf diese Weise ein wenig freie Zeit, wenngleich Katharina keine Ahnung hatte, womit eine alte Jungfer wie Lise ihre Zeit verbrachte. Sie war nur froh, dass die Lise sich auf den Handel einließ – und noch froher, dass heute kein Handel nötig war.
Ihre Mutter würde glauben, sie sei bei Jo, und vor ihr dehnte sich ein Nachmittag in Freiheit. Was sollte sie tun? Noch einmal zu Bens Wohnhaus gehen, um sich mit der gehässigen Wirtin anzulegen? Nein, besser, sie wartete vor der Halle des Tuchfabrikanten darauf, dass er herauskam, diesmal jedoch am hinteren Ausgang, damit er ihr nicht wieder entwischte.
Die Halle lag wie Bens Wohnung nicht weit vom Hafen, in einer Straße, in der es durchdringend nach Fisch roch. Das niedrige steinerne Gebäude hatte ein Flachdach, auf das die Sonne knallte, und die Gasse lag verlassen in der Mittagshitze. Nur eine gelbe Katze räkelte sich träge auf dem Pflaster, und fünf uniformierte Männer lungerten um eine vertrocknete Christuspalme herum und spielten mit einem Lazo. Zigarettenrauch umnebelte ihre Gesichter, und von Zeit zu Zeit drangen Stöße von Gelächter hinüber zu Katharina, die an der angelehnten Hintertür wartete.
Das Vordach war schmal, es spendete wenig Schatten. Katharina lief der Schweiß in Strömen. Warum nur zwang ihre Mutter sie in diese viel zu dicken Kleider, die sie aus der Heimat schicken ließ und die für norddeutsche Verhältnisse gefertigt waren? Sehnsüchtig lugte Katharina durch den Türspalt in die Halle, wo an mechanischen Webstühlen Männer jene leichten, billigen Stoffe fertigten, die zu tragen ihre Mutter ihr nie gestattet hätte.
In dem winzigen Ausschnitt, den sie überblicken konnte, war Ben nicht zu entdecken. Einer der Uniformierten rief zu ihr hinüber: »He, hübsches Herzchen, wohin darf es denn gehen?«
»Dahin, wo deine Schwester geht!«, versetzte Katharina kaltschnäuzig. Sie hatte einheimische Frauen so auf die Zudringlichkeiten von Männern antworten hören und instinktiv genauso reagiert – noch dazu in dem Jargon, den ihre Mutter Straßen-Spanisch nannte und zutiefst verabscheute. Die Männer lachten, aber sie ließen sie in Ruhe. Die Antwort machte ihnen deutlich, dass Katharina so ehrbar war wie ihre eigenen Schwestern und genauso erbittert verteidigt werden würde.
In der Halle begann die Glocke zu läuten, um die Arbeiter der Schicht zu entlassen. War Ben unter ihnen? Mühsam versuchte sie ihre Hoffnung zu bezähmen, was ihr wie üblich jedoch nicht gelang. Die meisten Arbeiter würden die Halle durch den Vorderausgang verlassen, doch eine Handvoll Männer quoll aus der Hintertür. Unschwer war ihnen anzusehen, wie erschöpft sie waren. Nachdem die kleine Gruppe schlurfend um die Ecke verschwunden war, kam noch ein einzelner Mann, ein Indio, nicht älter, aber gebeugter als Ben und bekleidet mit einem vergilbten, mehrfach geflickten Hemd.
Scheinbar im selben Moment gerieten die trägen Uniformierten in Bewegung. Einer von ihnen schwang die Schlinge des Lazos über seinen Kopf, warf sie aus und ließ sie zischend durch die Luft sausen. Der Indio schrie auf und sprang zur Seite, doch die Schlinge hatte sich bereits um ihn gesenkt und schnürte ihm die Arme an den Leib. Alle fünf Uniformierten zogen jetzt am Ende des Seils und legten ihr Gewicht hinein. Mit einem dumpfen Laut stürzte der Indio aufs Pflaster. Staub wirbelte auf. Die Männer lachten, dann begannen sie den Gefesselten über den Boden zu schleifen. Der zappelte wie ein gefangenes Tier, doch es nützte ihm nichts.
Nicht schon wieder, erhob sich eine Stimme in Katharina. Steh nicht schon wieder tatenlos dabei und gaffe!
»Lasst den Mann los«, schrie
Weitere Kostenlose Bücher