Im Land der gefiederten Schlange
sie, so laut sie konnte. Ohne nachzudenken, sprang sie mit beiden Füßen auf das Seil.
Mit enormer Kraft wurde das Seil unter ihren Sohlen gezogen. Katharina geriet ins Schwanken, streckte die Arme aus, fand aber nirgendwo Halt und stürzte. Schmerzhaft schlug sie mit der Schulter auf, und gleich darauf wurde das Seil darunter weitergezogen. Katharina hörte, wie der Stoff ihres Kleides riss, und spürte die harten Fasern des Seils, die ihr wie eine Klinge in die Haut schnitten. Ein Schrei entfuhr ihr. Der Kopf des Mannes schlug gegen ihre Füße, und einer der Uniformierten stieß einen Fluch aus. Katharina krallte die Hände um das Seil. Egal, was jetzt mit ihr geschah, zumindest hatte sie diesmal nicht zugesehen und Unrecht kampflos hingenommen.
»Verzieh dich, du Früchtchen!«
»Los, ab mit dir, wenn du nicht willst, dass wir dir Beine machen!«
Aus dem Augenwinkel sah sie den Schatten, der über sie hinwegschoss. Qualvolle Herzschläge lang war sie sicher, es müsse sich um einen der Soldaten handeln, obwohl er aus der falschen Richtung kam. Gleich würde er sich auf sie stürzen, sie an den Haaren packen, irgendetwas Unvorstellbares tun. Tatsächlich beugte die Gestalt sich dicht hinter ihrem Kopf nieder. Sie sah eine Klinge blitzen, hörte den Schnitt, dann schwang das Ende des zerschnittenen Seils zurück und traf sie an der Schläfe. Es tat nicht weh. Sie brauchte mehrere Atemzüge, ehe sie begriff, dass sie nicht länger geschleift wurde, sondern reglos am Boden lag.
Der Mann, der das Lazo durchschnitten hatte, schrie die Soldaten an: »Schert euch weg und versucht das nie wieder!« Von dem Schwall Schimpfworte verstand Katharina nicht einmal die Hälfte. Aber die Stimme erkannte sie, auch wenn sie scharf und verändert war. Es war Bens Stimme. Die Männer schimpften zwar zurück, aber anschließend trollten sie sich. Ben wandte sich dem Mann am Boden zu.
»Du bist ein Idiot«, sagte er, reichte dem Liegenden die Hand und zerrte ihn grob in die Höhe. »Wie lange weißt du schon, dass die sich hier herumtreiben und dass wir allein besser nicht das Gebäude verlassen?«
Der Mann hielt den Kopf gesenkt und klopfte sich verlegen Schmutz von den Schenkeln. »Du gehst auch allein«, murmelte er.
»Das sieht nur so aus«, erwiderte Ben. »Und was ich tue, braucht nicht deine Sorge zu sein. Sieh dich in Zukunft vor, oder bist du scharf darauf, dich in irgendeinem Norden von Granaten zerfetzen zu lassen?«
Kleinlaut schüttelte der Mann den Kopf. »Danke.«
Ben hob die Hände. »Lass gut sein. Geh nach Hause.«
Der Mann nickte ihm zu und trottete davon. Jetzt dreht er sich zu mir um, durchfuhr es Katharina. Ihr Herz klopfte bis in den Hals. Er würde sie loben, ihr sagen, dass es ungeheuer mutig von ihr gewesen war, für den Mann in die Bresche zu springen. Ihre aufgeschürfte Schulter schmerzte, aber das war die Sache hundertmal wert. Ben drehte sich zu ihr um. Eisig durchlief es sie, als sein Blick sie traf.
Er hielt ihr die Hand hin. »Steh auf. Ich werde dich nicht noch einmal fragen, was du hier zu suchen hast. Ich werde dich auch nicht noch einmal warnen, denn offensichtlich pfeifst du auf alles, was ich sage. Ich habe heute auch keine Zeit, dich nach Hause zu bringen, aber ich muss ein Stück in deine Richtung. Also los, beeil dich. Zumindest bist du dann wieder in einer Gegend, in der man Kinder zur Not allein lassen kann.«
»Ich bin kein Kind mehr«, protestierte Katharina und kam sich mehr denn je wie eines vor.
Er zog die Hand zurück. »Wenn du nicht aufstehst, gehe ich.«
Mühsam rappelte sie sich auf die Füße, wobei ihr klar wurde, dass sie zum Gotterbarmen aussehen musste. Ihr Kleid war nicht nur an der Schulter, sondern den gesamten Ärmel hinunter zerrissen und außerdem grau vom Straßenstaub. Sie griff sich ins Haar und stellte fest, dass eine der Schleifen sich gelöst hatte und der Zopf dabei war, sich aufzudröseln. Wütend riss sie sich die zweite auch noch heraus. Sollte er ihr grässliches Haar doch sehen – wenn er sie nicht mochte, wie sie war, konnte er ihr gestohlen bleiben. »Du könntest wenigstens höflich sein«, beschied sie ihn hoheitsvoll, trotz des Drecks und der gelösten Zöpfe. »Du benimmst dich wie ein Gassenjunge, weißt du das?«
Hässlich lachte er auf. »Und ob ich das weiß. Ich bin einer. Jetzt schwatz nicht und komm. Wir Gassenjungen sind auf unsere Arbeit angewiesen, wir können die, die uns Brocken hinwerfen, nicht warten lassen.« Ohne sie
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