Im Land der gefiederten Schlange
die rechte. Die linke war unbewegt geblieben, und im Licht der klaren Mondnacht hatte Katharina die Narbe gesehen, die sich am Augenwinkel in die Haut grub. »Es tut mir leid«, hatte er gesagt. »Deine Base Jette, das war die, die so gern das klebrige Gebäck aß, nicht wahr? Du musst es am Dia de los Muertos für sie essen.« Danach war er wieder in Schweigen verfallen, hatte sie bis an den Strauch vor der Siedlung begleitet und war ohne Gruß gegangen. Sie hatte ihn davonkommen lassen, doch schon am nächsten Tag hatte sie wieder nach ihm gesucht.
Damals war März gewesen, und jetzt war schon Ende Juni. Kaum zu glauben, dass es einem Mann so lange möglich war, einem hartnäckigen Mädchen auszuweichen – und dabei behauptete Jo, Katharina bekomme alles, was sie wolle.
Zu Jo zu gehen war vielleicht eine gute Idee – sie musste mit jemandem darüber sprechen. Ein wenig hoffnungsvoller lief sie zum Haus der Base, auch wenn das Gespräch nicht einfach werden würde. Jo steuerte neuerdings zu jedem erdenklichen Thema die Ansichten dieser Gerlinde bei, in die sie geradezu vernarrt war. Gerlinde Schwarzer war die Frau eines lutheranischen Pfarrers aus dem Hessischen, der sich nach Mexiko eingeschifft hatte, um seinen Glaubensgenossen in der Wildnis geistlichen Beistand zu spenden. Zumindest behauptete das Jo, die die Schwarzers in einer Gloriole aus rosigem Licht sah. Katharina vermutete, dass Gottfried Schwarzer in Wahrheit Dreck am Stecken gehabt hatte, denn von ihrer Mutter wusste sie, dass kein Mensch die Heimat aus freiem Willen verließ.
So oder so war der fromme Gottfried zur Ausführung seiner Pläne nicht gekommen, denn während der Überfahrt war er einer Typhuserkrankung erlegen. Allein und mittellos, hatte seine Witwe sich kein Zimmer in der deutschen Siedlung leisten können. Sie musste die unsägliche Schmach ertragen und unter ein Dach ziehen, das der katholischen Kirche gehörte. Diese fungierte als mächtigster Grundbesitzer der Stadt, bald zwei Drittel aller Mietshäuser gehörten ihr. Das Haus, in dem Gerlinde eine schmale Kammer mietete, lag in dem verrufenen Viertel nahe dem Hafen, in dem auch Ben und Katharinas Englischlehrerin Miss Gordon wohnten, und zu allem Unglück stand am Ende der Gasse eine Kapelle, bei deren Geläut die Pfarrerswitwe Höllenqualen litt.
Natürlich konnte sie nicht anstelle ihres Mannes das Amt eines Pfarrers ausüben, sondern hätte sich als Dienstmagd verdingen müssen, doch Gerlinde Schwarzer war erstaunlich findig. Auf irgendeine Weise war es ihr gelungen, die Bekanntschaft des sonst so menschenscheuen Doktor Messerschmidt zu machen, und mit seiner Hilfe ließ sie unter den Lutheranern von Veracruz verbreiten, sie werde demnächst in ihrer Kammer einen Bibelkreis eröffnen. Die Teilnahme sei kostenlos, nur für ihren Unterhalt bitte Gerlinde um einen winzigen Obolus, wie ja auch in der Kirche die Kollekte eingesammelt werde, um die Armen zu speisen.
Katharina wusste nicht, warum sie gegen eine Frau, die sie nicht kannte, eine solche Abneigung gefasst hatte – vermutlich, weil Jo ihr unentwegt mit ihr in den Ohren lag. Wie ein Schaf trottete die Base allwöchentlich durch die Stadt, um an diesen Bibelkreisen teilzunehmen. Ihre Eltern hätten ihr gewiss verboten, den langen Weg allein zu gehen, doch Onkel Christoph und Tante Inga schienen zu sehr in ihrer müden Traurigkeit gefangen, um darauf zu achten, was Josephine tat. »Ich habe nicht gewusst, was mir fehlte, bis ich Gerlinde traf«, beteuerte die Base. »Dass ein Mensch ohne geistliche Führung wie ein Blatt im Wind ist – Kathi, ich wünschte, auch du würdest das begreifen.«
Katharina aber wollte nichts davon begreifen, sie wollte mit Jo über Ben reden.
»Gerlinde würde sagen, es gehört sich nicht, dass ein junges Mädchen einem Mann hinterherläuft«, erklärte Jo und klang vertrockneter als Tante Traude. »Schon gar nicht, da du eine Lutheranerin bist und er ein Katholik.«
»Herrgott, ich will nicht wissen, was diese verwünschte Gerlinde sagen würde, sondern was du sagst!«, platzte Katharina heraus.
»Es tut mir weh«, erwiderte Jo. »Wenn du den Namen des Herrn unnütz im Mund führst und auch wenn du Gerlinde beschimpfst.«
»Herrgott«, entfuhr es Katharina schon wieder, doch hastig verbesserte sie sich: »Zum Teufel, Jo, das ist doch alles nicht wichtig, Katholik, junges Mädchen – Ben war mein Freund, meine ganze Kindheit hindurch. Weißt du, wie wohl es tut, einen Freund zu
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