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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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noch einmal anzusehen, ging er die Straße hinunter. Katharina blieb nichts übrig, als ihm zu folgen.
    Sie war groß und hatte zum Leidwesen ihrer Mutter nie gelernt, wie eine Dame zu trippeln, hatte aber dennoch Mühe, mit Bens langen Beinen mitzuhalten. Stets war er ihr um einen Schritt voraus, und sie bekam seinen schnurgeraden Rücken zu sehen, über dem sich der Hemdstoff spannte. Anders als bei den anderen Arbeitern war der Stoff schneeweiß. »Ben«, rief sie laut, als sie den Anblick des abweisenden Rückens nicht länger ertrug, »willst du wohl endlich auf mich warten?«
    »Will ich nicht«, sagte er, ging im selben Tempo weiter und drehte sich nicht einmal um.
    Der Zorn nahm ihr den Atem. »Ich hätte nie gedacht, dass du so ein Flegel sein könntest!«, stieß sie aus.
    Immerhin gönnte er ihr über die Schulter hinweg einen Blick. »Gut, dass du es jetzt weißt«, sagte er. »Vielleicht hast du dann in Zukunft ja die Güte, mich in Frieden zu lassen.«
    Durch den Dunst, der über der Stadt hing, brach Sonne und fiel auf sein Gesicht. Starr, wie in Bronze gegossen, sah es aus und die Narbe am Auge wie hineingekerbt. Auf einmal glaubte sie den erhobenen Messingknauf des Schirms zu sehen, der auf Bens wehrlosen Körper niedersauste, und dazu das Gesicht des Mannes, der ihn schwang – ihres Vaters Gesicht. Das Gesicht des sanftesten Mannes, den sie kannte.
    Katharina wurde schwindlig. Ob wegen des Sturzes, der plötzlichen Hitze oder der Wucht der Erinnerungen wusste sie nicht. Sie taumelte gegen die Hauswand. Das grelle Licht blendete sie, bis sie die Augen schloss und nur noch tanzende Funken sah. Einen Herzschlag lang fürchtete sie, in Ohnmacht zu sinken. Mädchen ihres Alters, die zu schnell wuchsen, geschah das häufig, hatte Tilman Roedgen gesagt, als ihre Mutter, die sich seit Jettes Tod noch mehr sorgte, sie zu ihm geschleppt hatte. Katharina wollte nicht in Ohnmacht sinken, sie hatte Ben Schwäche genug gezeigt. Sie hasste ihn und seine Überheblichkeit, wollte den Kopf aufwerfen und ihn zum Teufel wünschen, doch im nächsten Augenblick spürte sie seine Arme um sich.
    »Ichtaca.«
    Mit einem Schlag waren all ihre Sorgen aus der Welt. Sie ließ sich gegen ihn fallen, schlang die Arme um ihn und klammerte sich an ihm fest. Sein Duft hüllte sie ein. Sie hätte sich ruhig fühlen sollen, aber in ihr war alles andere als Ruhe. Ihr Herz schlug bis in den Hals, ihre Finger bohrten sich in die Muskeln unter seinen Schulterblättern. Ichtaca, sang seine Stimme in ihren Ohren.
    »Kannst du gehen, zumindest ein paar Schritte? Ich stütze dich. Dort bei der Mauer setzt du dich nieder, und ich hole einen Arzt.«
    Katharina aber ging keinen Schritt. Ihr Kopf lag an seiner Brust, ihr Ohr lauschte seinem Herzschlag, und so wollte sie stehen bleiben, während alle Zeit der Welt verstreichen mochte. Sie spürte seine Angst und gönnte sie ihm, weil er so hässlich zu ihr gewesen war. Jo fiel ihr ein, die gesagt hatte, sie denke nur an sich, und auf einmal kam ihr das Gerede lächerlich vor. Was war denn falsch daran, nur an sich zu denken, waren nicht sie und Ben das Zentrum der Welt, der Mittelpunkt, den die Sonne in ihr Licht tauchte? Jäh war sie sicher, ein jedes Mädchen hätte mit ihr tauschen wollen, nicht nur die arme Jo, sondern auch Helene, Luise und jede Frau, die lebte, selbst die reichste und schönste.
    Ben gab es auf, sie in Richtung der Mauer zu ziehen. Sacht drängte er sie nieder, half ihr, sich auf das sonnenwarme Pflaster zu setzen, und ging neben ihr in die Knie. Vorsichtig faltete er die Ränder ihres zerrissenen Ärmels auseinander und untersuchte die aufgeschürfte Haut. Sie sah, wie er den Kopf neigte, sah den Streifen bloßer Haut zwischen Hemdkragen und Haaransatz und legte blitzschnell ihre Hand darauf.
    Er fuhr in die Höhe, als hätte sie ihn geschlagen. Ihre Blicke trafen sich. »Ichtaca«, sagte er, »woran ist deine Base Jette gestorben? Am Fieber?«
    Katharina nickte.
    »Du musst zu einem Arzt«, bestimmte er und wollte aufstehen. Sie aber hängte sich an ihn und schüttelte den Kopf. Tränen quollen ihr aus den Augen, dabei war sie doch nie so glücklich gewesen und hatte nie so wenig Grund zum Weinen gehabt. Es war wegen Jette. Ihr war zumute, als würde sie etwas erleben, das Jette sich gewünscht hatte und das Katharina an ihrer Stelle bekam. Ben hatte kein Taschentuch. Mit einem Finger strich er ihr die Tränen von den Wangen.
    »Geht es dir besser?«
    Sie nickte.
    »Bist

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