Im Land der gefiederten Schlange
Klopfer schlug. Erstaunt flogen sämtliche Blicke zu Marthe. Einen Überraschungsgast hatte es an diesem Abend bereits gegeben, die Lise, die Marthe zum Heiligen Abend eingeladen hatte, weil »sie doch niemanden hat, mit dem sie feiern kann«. Lise hatte all die Jahre niemanden zum Feiern gehabt und sah nicht aus, als lege sie Wert darauf, aber Marthe konnte ja tun, was ihr beliebte.
Jetzt schüttelte sie entschieden den Kopf. »Glotzt mich nicht alle an. Ich habe niemanden eingeladen.«
Gleich darauf trat die Sanne in die Tür und hielt Marthe ein Tablett mit einer Visitenkarte vor. »Der Herr Sigmund Eyck«, gab sie bekannt. »Möchte seine Aufwartung machen und ein Geschenk abgeben. Für das Fräulein Luise.«
Der Freudenschrei, mit dem Luise aufgesprungen war, mischte sich mit dem Schrei des Zorns, der Traude entfuhr. »Welche Unverfrorenheit! Du musst ihn abweisen, Marthe. Und wenn er zehnmal der Sohn des Konsuls ist, das gibt ihm kein Recht, unsere Weihnacht zu stören. Außerdem ist er der Neffe dieser Äffin!«
Peter, von dem Christoph den Eindruck hatte, der ganze Familienzwist sei ihm zuwider, drehte sich nach Traude um. »Nun reg dich nicht auf«, brummte er. »Lassen wir den jungen Mann sein Geschenk übergeben, er wird ja nicht lange bleiben wollen.«
»Das denke ich auch«, bemerkte Dörte friedfertig und sandte ihrer Tochter, die vor Erwartung nicht stillstehen konnte, ein ermunterndes Lächeln.
»Aber das hier ist Marthes Haus, nicht deines«, kreischte Traude, schob die beleibte Sanne in den Flur und stellte sich in die Tür. Luise, die dem jungen Eyck entgegeneilen wollte, stieß sie mit einer Grobheit zurück, die das Mädchen taumeln ließ.
Das war der Moment, in dem Fiete die vergilbte Ausgabe des Hamburger
Columbus
beiseitelegte und sich erhob. Den Abend über hatte er sich von Marthes Beerenbrand bedient, ohne sich an Gesprächen zu beteiligen. So war er jetzt meistens, auch was das Hartmann’sche Handelshaus betraf. Es war, als wäre mit Jette Fietes Lebensgeist gestorben. Er unternahm mit seinen Kindern keine Wanderungen mehr und ließ sie nicht mehr »Das Wandern ist des Müllers Lust« singen. Die Lust des Müllers war verklungen.
Jetzt aber stand er auf einmal mitten im Raum und schwankte nur leicht von einem Bein auf das andere. Sein Sohn Hermann sprang ihm zackig an die Seite und hielt die Hand wie zur Drohung erhoben. »Geh aus der Tür, Traude«, befahl Fiete. »Lass meine Tochter durch.«
»Den Teufel werde ich tun!«, keifte Traude.
Mit drei Schritten war der kleine Fiete bei ihr und zerrte sie aus dem Weg. Den Hermann schob er zur Seite, dann wandte er sich an Luise: »Geh und begrüße deinen Herrn Eyck. Die Jugend ist kurz, lasst euch von dummem Gezänk nichts verderben.«
»Wenn der Mensch diesen Raum betritt, gehe ich!«, schrie Traude.
»Dann wirst du gehen müssen«, erwiderte Fiete. In seiner erstarrten Drohhaltung wirkte Hermann neben ihm wie eine Witzfigur. »Habe ich nicht recht, Peter? Du wirst dem Kavalier meiner Tochter wohl kaum die Tür weisen.«
Peter war anzusehen, wie gern er sich herausgehalten hätte.
»Wer steht eigentlich draußen?«, drang die Stimme der Königinmutter ins Schweigen. »Der Schimmelreiter? Die Wilde Jagd?«
Niemand lachte.
»Der junge Herr Eyck ist natürlich willkommen«, rang Peter sich endlich zu einer Entscheidung durch.
Im Flur entstand Gemurmel, offenbar versuchten Luise und die Sanne, Sigmund Eyck zum Eintreten zu bewegen. Ehe dieser jedoch in der Tür erschien, zerrte Traude ihre Tochter vom Stuhl und rief ihrem Sohn zu: »Du mach, dass du auf die Füße kommst. Ein Beispiel am Hermann solltest du dir nehmen, wo schon kein Vater da ist, der für die Rechte deiner Schwester eintritt.«
Stefan, der Felix beim Zeichnen zugesehen hatte, erschrak und stand auf. »Aber Mutter …«, war alles, was er herausbrachte.
»Du kommst mit«, bestimmte Traude. Gleich darauf drängte sie sich mit Helene durch die Tür. Der arme Stefan zuckte hilflos mit den Schultern, winkte Kathi zu und folgte Mutter und Schwester.
Eine angespannte Ewigkeit später führte Luise Sigmund Eyck in den Saal. Der trug einen pelzbesetzten Wintermantel, aus dem sein hochroter Kopf herausschaute, als hätte er einem Schneesturm getrotzt. Sein Geschenk hatte Luise am abgespreizten Ringfinger, einen Goldreif mit glitzerndem Stein. Sie war ebenfalls errötet, aus ihrer Frisur ringelten sich Strähnen, und ihre Augen glänzten. Sie war jetzt wahrhaftig
Weitere Kostenlose Bücher