Im Land der gefiederten Schlange
aufbrach. Katharina ging nicht weit von der Calle de Hidalgo zum Englischunterricht. Manchmal ging sie tatsächlich, und manchmal wartete sie nur im Eingang des Hauses darauf, dass er sie holte. Du bist verrückt, sagte er zu sich selbst. Du hast keine Arbeit mehr, du wirst in wenigen Wochen kein Geld mehr haben. Du kannst deiner Mutter nichts geben und der verwünschten Inez erst recht nichts, obwohl du es deinem Bruder versprochen hast. Du kannst Carmen nichts geben. Einem so feinen Mädchen wie Carmen willst du das Herz brechen, und obendrein stößt du sie in Not.
Seine Versuche, sich zur Vernunft zu bringen, richteten nichts aus. Er holte das Maultier, nahm einen Teil des Ersparten, das er um keinen Preis hatte anrühren wollen, und ritt los. Du bist verrückt, schalt er sich wieder, du hast keine Arbeit, und der Krieg rückt näher, aber du reitest einher wie der König von Tenochtitlán und als müsste alle Welt dich beneiden.
Der Krieg würde sich nicht aufhalten lassen. An Weihnachten hatte wieder einmal der Präsident gewechselt, und der neue Mann im Amt war Gómez Farias, ein Liberaler der Puro-Richtung, der sich durch die Kämpfe Fortschritt und Veränderung erhoffte. Gegen Farias’ Ziele war wenig zu sagen. Er trat für Verbesserungen des Bildungswesens ein und hatte verlangt, einen Anteil an den Kriegskosten der Kirche aufzuerlegen, deren Reichtum ihm ein Dorn im Auge war. Seither weigerten sich allerorts Kleriker, die Messe zu lesen und das Sakrament auszuteilen. Gläubige ließen sich gegen Farias aufhetzen, Flugblätter kursierten, die den Präsidenten mit dem Tod bedrohten, und der Palacio Nacional in der Hauptstadt wurde mit Steinen bombardiert.
Dieser Aufruhr aber war es nicht, der Benito gegen Farias einnahm, sondern die Einfalt des Mannes, der auf Santa Annas Süßholzraspeln hereingefallen war. Auf welche Weise der »Napoleon des Westens« Farias eingeredet hatte, er sei im kubanischen Exil zum Liberalen geworden, war Benito schleierhaft, doch von Stund an erschienen die beiden wie ein Herz und eine Seele. Santa Anna, ruhmsüchtig wie eh und je, war an der Spitze von dreitausend kläglich gerüsteten Soldaten nach Norden gezogen, und jeder, der auch nur den geringsten Einblick hatte, wusste, dass Farias das Präsidentenamt bloß verwaltete, bis der Einbeinige zurückkam und die Zügel selbst übernahm. Von beiden war nicht zu erwarten, dass sie eine Hand rührten, um eine Landung der Amerikaner vor Veracruz zu verhindern.
Benito wusste all dies. Er wusste, dass sein Bruder, wenn er das nächste Mal ins Hochtal kam, nicht mehr da sein mochte und dass alles, was sein Leben ausmachte, am seidenen Faden hing, und doch blieb das Wissen in diesen Tagen weit von ihm entfernt. Was ihn erreichte, war einzig der Singsang zweier Worte, die sich mit dem Hufschlag des Maultiers zu Musik vereinten:
Heute Abend. Heute Abend.
Er schloss die Schenkel um den Leib des Tiers und trieb es in Trab. Je schneller er die Vorstadt erreichte, desto schneller hatte er die unliebsame Begegnung hinter sich.
Ist es denn nötig?, bohrte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Musst du Carmen das antun, gibt es einen Grund dazu? Betrachtete man die Sache nüchtern, so gab es keinen. Helen wäre ein Grund gewesen. Helen hatte er in den Armen gehalten, er hatte sich mit ihr in durchschwitzten Seidenlaken gewälzt, bis sie beide erschöpft auseinanderfielen. Auf seinen Schultern prangten Bisswunden von Helens Zähnen, wenn er Carmen besuchte, und doch hatte er es nie für nötig gehalten, mit ihr darüber zu sprechen.
Warum hielt er es jetzt für nötig?
Was wollte er Carmen überhaupt sagen?
Dass er sie jetzt, nachdem er sich mehr als fünf Jahre lang von ihr hatte lieben lassen, wegwarf wie ein verschlissenes Hemd? Dass er seine Arbeit, die sie ernährte, aufgegeben hatte und dass er alles, was ihm teuer war, aufs Spiel setzte, um ein paar Stunden mit einem Mädchen zu verbringen, von dem er nicht einmal träumen durfte? Wie sollte er ihr solchen Wahnwitz begreiflich machen? Indem er ihr erzählte, wie er mit seiner Kinderfreundin in entlegenen Barrios durch die Gassen tobte, als wären sie beide nicht älter als fünf Jahre? Wie sie einander Tortillas vom Straßenverkauf in die Münder stopften, weil Katharina noch nie welche gegessen hatte, wie sie ihn beschwor, mit ihr in eine Pulqueria zu gehen, und wie er schließlich, weil sie nicht lockerließ, in die für Frauen verbotene Kaschemme schlich und Pulque in einer
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