Im Land der gefiederten Schlange
wie man eine Muskete hält.«
»Und was bedeutet das?«, fragte sie vorsichtig.
»Es bedeutet, dass Mexiko bereits drei Schlachten und eine wichtige Grenzstadt verloren hat«, erwiderte er. »Und dass sich das Ziel, die Amerikaner im Norden zurückzuschlagen, nicht erreichen lassen wird.«
»Und was geschieht dann?«
»Dann kann alles Mögliche geschehen. General Taylors Armee könnte von oben ins Landesinnere vordringen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass ihnen das zu riskant ist. Die Wege sind endlos und allzu leicht zu verteidigen. Viele mexikanische Offiziere hoffen, dass sie sich entscheiden, Kräfte aus dem Norden abzuziehen und stattdessen eine Landung an der Golfküste zu wagen.«
»Aber die Golfküste …«, begann Katharina, »die Golfküste sind doch wir!«
»In der Tat«, sagte Benito. »Unsere Heeresleitung glaubt wohl, dass die Truppen ihrer hier leichter Herr werden, zumal der Vomito negro ihnen einen Teil der Arbeit abnehmen könnte. Wenn das aber nicht der Fall ist, wenn Veracruz fällt und die Amerikaner auf Mexiko-Stadt ziehen, sollen Guerilleros an den Verbindungsstraßen lauern, um sie aufzuhalten.«
»Wenn Veracruz fällt«, murmelte Katharina vor sich hin und wiederholte es noch einmal: »Wenn Veracruz fällt. Wie zum Teufel haben wir denn glauben können, der Krieg ginge uns nichts an?«
»Ich habe nicht die Spur einer Ahnung«, bekannte Benito.
Inzwischen war es völlig dunkel, und Katharina bemerkte, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Benito zog sie an sich. Dann stand er auf. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Ich muss heute noch diesen Mann treffen, und du hättest längst nach Hause gehört.«
Diesmal widersprach sie nicht, sondern schmiegte sich in seinen Arm und ließ sich wie eine willenlose Puppe führen. In ihrem Kopf tobten Empfindungen durcheinander und ließen sich so wenig trennen wie die Hähne im Kampf. Sie fühlte sich unendlich glücklich und unendlich müde, verwirrt, verängstigt, verwundert und erregt. Alles, was sie wusste, war, dass ihre Hand auf Benitos Hüfte ruhte, dass sie durch den dünnen Stoff die Wärme seiner Haut spürte und dass dies kleine Stöße ihren Arm hinauf bis in ihr Herz sandte. Sobald sie den hohen Strauch erkannte, der ihrer Siedlung eine Grenze setzte, blieb sie stehen. »Von hier gehe ich allein«, sagte sie. »Nein, Benito, versuch nicht, mich umzustimmen. Mir droht hier keine Gefahr, aber es könnte uns jemand begegnen. Dass dir noch einmal ein Mann meiner Familie weh tut, halte ich nicht aus.«
Seine Augen wurden schmal. »Wofür hältst du mich? Für einen Schlappschwanz? Der Kerl beim Hahnenkampf ist einer Meinung mit dir.«
»Hähne quälen ist für Schlappschwänze«, flüsterte sie in sein Ohr. »Im Vergleich dazu fand ich dich ziemlich tapfer.«
Er gab klein bei. »Bist du sicher, dass du allein gehen kannst?«
»Ganz sicher. Wann sehe ich dich wieder?«
»Kannst du das mir überlassen?«, bat er und hob zart ihr Kinn.
Sie wollte darauf pochen, dass er ihr hier und jetzt Zeit und Ort nannte, dann aber sah sie seine Augen und erkannte, dass sie ihm vertrauen musste. »Hasta moxtla«, sagte sie, versuchte seinen Mund zu küssen, traf daneben und lief los. Die zwei Worte waren ihr jäh wieder eingefallen. Sie hatten sie als Kinder benutzt, um sich zu verabschieden. »Bis morgen« hießen sie.
14
Kaum zu glauben, dass ein Jahr vergangen war, seit Marthe ihm den Schal für Jo gebracht und beteuert hatte, es ginge ihnen allen doch gut. Kaum zu glauben, dass ein Jahr vergangen war, seit die vor Leben strotzende Jette krank geworden und Tage später sang- und klanglos gestorben war. Christoph sah sich im Raum um. Wieder strahlte ein Christbaum im Glanz seiner Lichter, wieder saß die Familie beieinander, nicht bei Traude, sondern bei Marthe, nur waren sie alle still. Marthe hielt niemanden zum Singen an, und Fiete sprach dem Alkohol zu und blätterte in längst verjährten Zeitungen. Kein einziges Mal hatte er versucht eine seiner Geschichten zu erzählen.
Dabei hatte sich Marthe alle Mühe gegeben, der trüben Stimmung aufzuhelfen. Der nahezu brachliegende Handel durch die Blockade traf die Lutenburgs weniger hart als die anderen, da die Brauerei vom innerstädtischen Geschäft profitierte und in Zeiten des Kummers mehr getrunken wurde. Marthe hatte die Sanne auftischen lassen wie in den besten Zeiten, auch wenn der Rheinwein knapp war und Bananenmus die eingelegten Kirschen ersetzte. Überdies hatte sie Traude ein
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