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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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Geldgeschenk gemacht, über das diese zwar schimpfte, sie lasse sich nicht beschämen, das ihr aber die Eintreiber des Agiotista vom Hals halten würde.
    Es war Marthe gegenüber nicht recht, so trübsinnig vor sich hin zu starren, aber niemand schien in der Lage, den Bann zu durchbrechen.
    Früher hatte die laute Fröhlichkeit der Kinder sie aus ihrer Befangenheit gerissen und betretenes Schweigen übertönt. Heute waren die Kinder dafür zu groß. Wie eh und je sah Christoph sie in der ihnen zugedachten Ecke sitzen, vernahm aber weder Gekicher noch Gejohle oder lautstarken Streit. Natürlich hatten sie sich alle wohlerzogen für ihre Geschenke bedankt, aber es hatte keine Jubelschreie gegeben, keine Reiter auf Steckenpferden waren durch die Stube galoppiert, und keine Puppe war zu gequäkten Wiegenliedern in den Schlaf geschaukelt worden. So viel Zeit ist vergangen. Selbst seine Zwillinge Torben und Friedrich, zusammen mit Felix die jüngsten der Schar, saßen gesittet und gelangweilt auf ihren Stühlen. Sie hatten das Wunderreich der Kindheit verlassen, und die Weihnachtsnacht besaß keinen Zauber mehr.
    Und ich wollte euch doch noch so vieles zeigen. Das Bild seiner Söhne verschwamm Christoph vor den Augen. Wo ich als Junge gerodelt bin, wo ich Kastanien sammeln ging, wo meine Freunde und ich unser Baumhaus hatten. Und den Schlehdorn hätte ich euch zeigen wollen, die nackten schneebedeckten Zweige mit den blauen Beeren. Wie hart sie gefroren waren, wie sie knackten, wenn man ihre Eishaut zerbiss, ehe sie ihre Süße verschenkten. Unsere Welt hätten wir euch zeigen sollen, euch an unseren Händen ins Leben geleiten. Stattdessen haben wir euch in eine Welt gesetzt, in der wir selbst wie Blinde umhertappen. Wir waren euch keine Hilfe, sondern können nur hoffen, dass ihr euch aus eigener Kraft zurechtfindet, wie es uns nie gelungen ist.
    Christophs Blick wanderte von seinen Söhnen fort zu seiner Tochter. Jo saß zwischen Kathi und Luise, und an Kathis anderer Seite saß Helene, die sich weigerte, mit Luise zu sprechen. Unsere Töchter. Über dem Klavier hing die Fotografie, der Beweis dafür, dass sie nicht vollständig waren und es nie wieder sein würden. Marthe hatte das Bild von Dörte zurückgefordert und aufgehängt. Als Christoph sie gefragt hatte, ob das nicht herzlos gegen Dörte sei, hatte sie ihn verwiesen: »Ein Jahr zum Trauern ist lang. Hatten wir vielleicht ein Jahr, hatten wir auch nur einen Tag?«
    Er sah wieder hinüber zu den Töchtern, und auf einmal erinnerte er sich, wie er früher in einer Schar hübscher Mädchen seine Schwester gesehen hatte und wie sie ihm erschienen war wie ein Diamant, umgeben von Halbedelsteinen, wie der helle Mond im Kreis kleiner Sterne. Genauso erging es ihm jetzt mit Jo, auch wenn vermutlich jeder andere darüber gelacht hätte.
    Seine Jo war bleich und zart, während Kathi und Luise Rosenknospen auf den Wangen hatten und vor Leben barsten. Luise war seit Jettes Tod geradezu aus dem Leim gegangen, und Kathi war so bezaubernd, dass es ihm für einen Augenblick den Atem verschlug. Etwas musste mit ihr geschehen sein, dass sie mitten im Winter, in Not und Sorge so blühte. Und mit Luise auch, stellte er verwundert fest. Die dickliche Göre, die stets im Schatten der Schwester gestanden hatte, war zu einer drallen Schönheit geworden, die zwar rasch welken, auf ihrer Höhe aber unwiderstehlich sein würde.
    Und dennoch bestand in Christophs Augen nicht der geringste Zweifel daran, dass Jo die Schönste war. Ihr Haar war farblos, aber ihr Gesicht strahlte eine solche Güte aus, dass man das Haar vergaß. Ihre Gestalt im Kittelkleid war im Gegensatz zu den Basen noch mädchenhaft, und statt des Reizes der erblühenden Frau hatte sie den Schmelz der Unschuld an sich. Am schönsten fand Christoph ihre Hände, die feingliedrig und vollkommen in ihrem Schoß lagen und wahrlich den Händen seiner Schwester glichen.
    Christoph dankte dem Himmel für dieses Geschöpf, das er liebte, wie er seine Schwester geliebt hatte. Er war ein schlechter Bruder und ebenso ein schlechter Vater gewesen, er hatte Jo weder Berater noch Beschützer sein können, und doch war sie heil und unversehrt herangewachsen. Niemals durfte ihr etwas geschehen! Er würde von jetzt an auf sie achten, schwor sich Christoph und vergaß, wie oft er sich das schon geschworen hatte.
    Gerade hatte er sich gefragt, wie lange dieses bedrückende Fest sich noch dahinschleppen mochte, als an der Vordertür der

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