Im Land der Kaffeeblüten (German Edition)
stehen. Überlebensgroß und man selbst fühlt sich so … so …«
»Unzureichend«, ergänzte Lina trocken. Sie sah die Mädchen an und lächelte. »Was meint ihr, wie es mir ergangen ist? Ich erinnere mich kaum noch an Großmutter Elise. Sie war ständig unterwegs. Auf Expeditionen oder sie kämpfte irgendwo für Frauenrechte oder für die Maya. Für mich stand sie immer auf einem Podest.«
»Hast du die Tagebücher mal gelesen?« Isabell konnte sich mit allergrößter Fantasie nicht erklären, wie aus dem Nervenbündel Elise eine kämpferische Frau geworden war. »Da wirkt sie so … so … ängstlich.«
»Nein.« Lina schaute an Isabell und Julia vorbei. Sie schien nachzudenken und schwieg einen Moment. »Es war nicht einfach. Meine Mutter und Elise. Nun, sie … sie verstanden sich nicht gut. Milde ausgedrückt. Meine Mutter hat Elise vorgeworfen, dass sie ständig weg war und nie Zeit für sie hatte.« Lina hob die Hände. »Elise kam nur ab und an zu Besuch, blieb ein paar Tage und dann verkrachten sie sich auch schon wieder. Daher kann ich euch wohl wenig helfen. Tut mir leid.« Lina sprang auf. »Ich muss jetzt los. Einen schönen Abend noch.«
Isabell und Julia warteten, bis die Haustür zuschlug.
»Ständig unterwegs zu sein, scheint in der Familie zu liegen. Lina kann auch keinen Abend zu Hause bleiben.«
»Schade, dass sie sich nicht an mehr erinnert. Vielleicht auch nicht erinnern will.« Julia drehte eine Haarsträhne um den Finger. »Dann müssen wir eben alle Tagebücher lesen.«
»Ja. Warum hätte es auch einfach sein sollen!«
24 Guatemala 1902
Den ganzen Tag hatte Elise hin und her überlegt, ob sie es wirklich wagen sollte. Ihre Furcht und ihre Neugier hatten sich einen erbitterten Kampf geliefert, den ihre Neugier am Ende gewonnen hatte. Deshalb schlich sie sich bereits in der nächsten Nacht wieder zu den Indios ans Lagerfeuer hinaus.
»Guten Abend«, sagte Elise leise und hielt den Blick gesenkt. Sie spürte ihre Knie weich werden und hoffte, dass sie der Mut nicht verlassen würde. War es anmaßend, sich den Männern zu nähern, nur um ihnen Fragen zu stellen?
»¡Hola! Bitte, setz dich zu uns.« Die Stimme des Brujo klang so freundlich, dass sich Elise in sicherem Abstand ans Feuer setzte. »Welche Frage führt dich zu uns?«
»Woher … woher wissen Sie …?« Elise schreckte auf. Konnte der Schamane etwa ihre Gedanken lesen?
»Ich weiß es nicht, aber was sollte dich in der Nacht zu uns führen, wenn nicht die Wissbegierde?« Der Brujo lächelte Elise voller Wärme an. Nun schämte sie sich beinahe für ihre Angst. »Nur keine Scheu, frage mich, was du möchtest.«
»Das ist sehr nett von Ihnen.« Elise fasste langsam Vertrauen. So viele Fragen waren ihr im Laufe des Tages durch den Kopf gegangen. So vieles hatte sie erfahren wollen und nun … nun war alles wie weggeblasen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, verärgert über ihre eigene Unfähigkeit. Endlichfiel ihr wieder etwas ein. »Ich … ich wüsste gern etwas über den Glauben der Maya. Über die ersten Menschen und ihre Götter. Natürlich nur, wenn Sie darüber reden mögen.«
»Gern. Warum sollte ich dir etwas verheimlichen?« Der Schamane lehnte sich etwas zurück und sprach mit ruhiger Stimme: »In unserem Schöpfungsbuch, dem Popol Vuh, steht geschrieben, dass Mais der Grundstoff des Menschen ist.«
»Mais?«, fragte Elise ungläubig. Was für eine seltsame Idee.
Der Schamane lächelte.
»Die Götter wünschten sich Wesen, die ihre göttlichen Schöpfer verehrten und sie priesen. Daher entschlossen sie sich, den Menschen zu schaffen, und schufen als Erstes einen Menschen aus Lehm.« Der Brujo machte eine kurze Pause, um das Gesagte wirken zu lassen.
»Wie in der Bibel«, konnte sich Elise nicht verkneifen festzustellen.
»Du sagst es.« Der Indio nickte ihr zu. »Wie Adam. Aber der Lehm-Maya erwies sich als Fehlschlag. Er war schwach und zerbrechlich und als seine Worte keinen Sinn ergaben, zerstörten ihn die Götter wieder.«
Der Schamane beugte sich vor und stocherte ein wenig im Feuer, das nahezu heruntergebrannt war. Flammen loderten auf und die Schatten zeichneten Muster auf sein Gesicht.
»Beim zweiten Versuch griffen die Götter auf Holz zurück. Auch diese Menschen entsprachen nicht ihren Vorstellungen. Sie besaßen weder Gefühl noch Verstand. Da sandten die Götter eine Flut, um die Holzwesen zu vernichten.«
»Die Sintflut«, warf Elise ein. Also unterschied sich dieMythologie
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