Im Land der Kaffeeblüten (German Edition)
sie noch immer zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen war, drangen Geräusche an ihr Ohr. Freudentränen liefen ihr über die Wangen.
»Elise! Kind!«, hörte sie dumpf die Rufe ihres Vaters. »Lise! Lise! Lise!«
Entfernte sich die Stimme wieder? Täuschten ihre Ohren Rettung vor, wo es keine geben konnte? Sie lauschte, konzentriert und angespannt. Sollte doch alles umsonst gewesen sein? Sollte ein grausames Schicksal ihr einen Hoffnungsschimmer versprechen, nur um sie dann umso tiefer ins Unglück zu stürzen?
»Mutter! Vater!« Sie schrie mit aller Kraft, doch ihre Stimme klang dünn und schwach. Wie sollten ihre Eltern sie hören können? Verzweifelt sah sie sich um. Da, ein Stock. Sie sprang auf und zerrte das Stück Holz hervor. Mit aller Kraft schlug sie damit gegen einen Stein. Wieder und wieder.
Warum hörte sie denn keiner?
40 Bremen 2011
»Wow! Junge, Junge. Unsere Elise.« Isabell schlug das Tagebuch zu und rieb sich die Augen. »Stolpert mal einfach so in einen Tempel. Und wird von einem Schamanen gerettet. Das weitet sich ja zu einem richtigen Archäologie-Krimi aus.«
»Moment mal.« Julia kramte in ihren Unterlagen. Irgendetwas an der Geschichte in Elises Tagebuch war ihr bekannt vorgekommen. »Guck mal. Hier, der Tempel in Cancuen. Angeblich erst in den 1960er Jahren erforscht. Wie kann das sein? Das ist doch genau da, wo Elise war.«
»Zeig mal.« Isabell griff nach Elises Tagebuch und blätterte verwirrt darin. »Das … das muss ein anderer Tempel sein. Sonst wäre das doch alles öffentlich gemacht worden. Henni war doch total scharf auf Ruhm und Ehre.«
»Da ist nichts anderes.« Julia deutete auf die Karte der Maya-Anlagen in Guatemala. Zwischen Tikal und Cancuen gab es nichts Weiteres von Bedeutung. »Es muss einen Grund geben, dass Elise und ihre Eltern eine so bedeutende Entdeckung verschwiegen haben.«
»Na ja, Elise hat schließlich ein Versprechen gegeben. Vielleicht hat sich auch herausgestellt, dass sie nur über ein schlichtes Herrschergrab oder so was gestolpert war.« Isabell zuckte die Schultern, aber sie wirkte etwas verunsichert. Immer wieder rieb sie mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. »Es gibt sicher eine simple Erklärung.«
Für Julia klang das eher, als ob sich Isabell etwas schönreden wollte. Doch ihre Neugier war geweckt. Schließlich entdeckte man nicht jeden Tag ein Maya-Heiligtum.
»Und der Tempel?«, beharrte sie daher. »Warum hat man bis in die 1960er Jahre hinein nichts von ihm gehört?«
»Keine Ahnung. Lass uns googeln.« Isabell schob die Papiere auf ihrem Schreibtisch zur Seite, bis sie Platz für ihr Notebook geschaffen hatte. »Hier, jede Menge Infos zu Cancuen.«
»Na toll. Auf Spanisch.« Julia schaute ihr über die Schulter. Damit hätte sie rechnen können. Schließlich handelte es sich ja um eine der wichtigsten Ausgrabungsstätten. »Gibt’s nicht was auf Deutsch oder meinetwegen Englisch?«
»Doch klar. Das gute alte Wiki.« Isabell öffnete ein neues Fenster. Gemeinsam lasen sie den kurzen Text. »Nicht viel Aufschlussreiches.«
»Versuch mal Wiki auf Englisch, bitte.«
Isabell öffnete die Seite und übersetzte während des Lesens:
Die Ruinen von Cancuen wurden 1905 von dem österreichischen Forscher Teoberto Maler entdeckt. Nach ersten Untersuchungen fanden sich dort keine interessanten Tempel oder Begräbnisstätten, sodass die Stätte nicht weiter erforscht wurde. Erst 1967 fanden Studierende der Universität Harvard die Ruinen eines der größten Maya-Paläste mit mehr als zweihundert Räumen.«
Hm, 1905, das war drei Jahre nach Elises Sturz. Könnte allerdings erklären, warum ihre Eltern damit nie an die Öffentlichkeit getreten sind. Sie haben wohl ebenfallsgeglaubt, nichts Besonderes entdeckt zu haben.« Gedankenverloren wickelte sich Julia eine Haarsträhne um den Finger. »Sie haben ihre Forschungen eingestellt und sind einfach nach Deutschland zurückgereist?«
»Kannst du dir eine bessere Erklärung vorstellen?« Isabell zuckte mit den Schultern. »Wie heißt es so schön? Wenn du Hufgetrappel hörst, denk an Pferde, nicht an Zebras.«
»Und der geheimnisvolle Brujo?« Julia war nicht bereit, so schnell nachzugeben. Elise erlebte die abenteuerlichsten Geschichten und das sollte sich nun einfach in Wohlgefallen auflösen? Nein, da musste noch mehr dahinterstecken. Es konnte nicht sein, dass nur Margarete ein Geheimnis hatte. »Vielleicht hatte der Schamane etwas damit zu tun?«
»Wir können viel
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