Im Land der letzten Dinge (German Edition)
weiter Ferne schimmerte ein Streifen graublauen Lichts. Es war ganz seltsam, das Meer so zu sehen, und ich kann dir unmöglich beschreiben, was für eine Wirkung das auf mich hatte. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft bekam ich einen Beweis dafür, dass die Stadt nicht irgendwo und nirgends lag, dass jenseits davon noch etwas existierte, dass es außerhalb dieser Welt noch andere gab. Es überkam mich wie eine Offenbarung, fuhr mir wie ein Schwall Sauerstoff in die Lungen, fast schwindlig wurde mir bei dem Gedanken. Ich sah die weite Staffelung der Dächer. Ich sah den Rauch aus den Krematorien und Kraftwerken steigen. Ich hörte eine Explosion in einer nahegelegenen Straße. Ich sah Leute da unten gehen, so winzig, dass sie nicht mehr wie Menschen wirkten. Ich spürte den Wind im Gesicht und roch den Gestank in der Luft. Alles kam mir fremd vor, und während ich so neben Isabel auf dem Dach stand, noch zu erschöpft, um etwas sagen zu können, hatte ich plötzlich das Gefühl, ich sei tot, so tot wie Ferdinand in seinem blauen Anzug, so tot wie die Leute, die am Stadtrand in Rauch aufgingen. Ich wurde so ruhig wie lange nicht, ja geradezu glücklich, aber glücklich auf eine kaum fassliche Weise, als hätte dieses Glücksgefühl gar nichts mit mir zu tun. Und da begann ich mit einem Mal zu weinen – ich meine, richtig zu weinen: aus tiefster Brust schluchzend, abgehackt und verzweifelt um Atem ringend –, ich heulte, wie ich seit meiner Kindheit nicht mehr geheult hatte. Isabel fiel mir um den Hals, und ich barg lange mein Gesicht an ihrer Schulter und schluchzte mir vollkommen grundlos die Seele aus dem Leibe. Ich habe keine Ahnung, woher diese Tränen kamen, aber noch etliche Monate später kam ich mir wie verwandelt vor. Zwar lebte und atmete ich weiter, bewegte mich von einem Fleck zum andern, doch konnte ich nicht die Vorstellung abschütteln, dass ich tot sei, dass nichts mich wieder dem Leben zurückgeben könne.
Irgendwann setzten wir unsere Arbeit auf dem Dach fort. Inzwischen war es später Nachmittag, und die Hitze hatte den Teer zu einer zähen klebrigen Masse zerschmolzen. Der Aufstieg über die Leiter war Ferdinands Anzug nicht gut bekommen, und nachdem wir ihn aus dem Laken befreit hatten, begann Isabel noch einmal, ihn ausgiebig herzurichten und aufzuputzen. Als es dann endlich so weit war, dass wir ihn an die Dachkante tragen konnten, behauptete Isabel, er müsse aufrecht stehen. Andernfalls würde der Zweck der ganzen Posse verfehlt. Wir müssten die Illusion erzeugen, dass Ferdinand ein Springer sei, sagte sie, und Springer kröchen nicht, sondern schritten kühn erhobenen Hauptes dem Abgrund entgegen. Dieser Logik war nichts entgegenzusetzen, und so rangen wir in den nächsten Minuten mit Ferdinands schwerfälligem Leichnam, schoben und zerrten ihn herum, bis er auf wackligen Füßen stand. Eine grausige kleine Komödie, kann ich dir sagen. Der tote Ferdinand stand jetzt also zwischen uns und schwankte wie eine riesige Aufziehpuppe – sein Haar wehte im Wind, die Hose rutschte ihm über die Hüfte, und dazu noch immer dieser verblüffte, entsetzte Ausdruck auf seinem Gesicht. Als wir ihn an die Dachkante führten, knickten ihm dauernd die Knie ein und schleiften nach, und als wir endlich ankamen, hatte er seine beiden Schuhe verloren. Keine von uns brachte es über sich, allzu nahe an den Rand zu treten, so dass wir nicht wissen konnten, ob uns von unten auf der Straße womöglich jemand beobachtete. Etwa einen Meter von der Kante entfernt – weiter wagten wir uns nicht vor – zählten wir im Takt, um unsere Bewegungen zu synchronisieren, gaben Ferdinand dann einen kräftigen Stoß und warfen uns gleichzeitig zurück, um von dem Schwung nicht mit in die Tiefe gerissen zu werden. Er knallte mit dem Bauch auf die Kante, kam ein wenig hoch und kippte dann ab. Ich erinnere mich, dass ich den Aufprall des Körpers auf dem Pflaster erwartete, doch ich hörte nichts als meinen Pulsschlag, das Klopfen meines Herzens in meinem Kopf. Danach haben wir Ferdinand nicht mehr gesehen. An diesem Tag gingen wir beide nicht mehr auf die Straße hinunter, und als ich am nächsten Morgen meine Runde mit dem Einkaufswagen antrat, war Ferdinand samt allem, was er getragen hatte, verschwunden.
Ich blieb bei Isabel bis zum Ende. Den Sommer und Herbst hindurch und noch ein wenig länger – bis zum Winteranfang, als die Kälte gerade richtig einzusetzen begann. In all diesen Monaten wechselten wir kein Wort über
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