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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Wagen durch die Straßen zu bugsieren. Ich sah ihn schon umkippen und Ferdinand herausfallen, sah die Geier uns Ferdinand und den Wagen entreißen. Noch schwerer wog, dass Isabel gar nicht die Kraft für einen solchen Ausflug hatte, und ich machte mir Sorgen, sie könnte dabei ernsten Schaden nehmen. Ein langer Tag auf den Beinen zerstörte womöglich das bisschen Gesundheit, das ihr noch geblieben war, und so sehr sie auch heulte und flehte, ich ließ mich nicht dazu erweichen.
    Schließlich fanden wir so etwas wie eine Lösung. Damals schien sie mir sehr vernünftig, aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, kommt sie mir reichlich bizarr vor. Nach einigem Hin und Her beschlossen wir nämlich, Ferdinand aufs Dach zu befördern und ihn von dort hinabzustürzen. Wir wollten einen Springer aus ihm machen. Zumindest die Nachbarn würden denken, Ferdinand habe noch etwas Kampfgeist übrig gehabt, sagte Isabel. Sie würden ihn da oben vom Dach fliegen sehen und sich sagen, das ist ein Mann, der den Mut hat, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Es war unschwer zu erkennen, dass ihr diese Vorstellung sehr zusagte. Wir selbst, sagte ich, könnten uns dabei ausmalen, dass wir ihn über Bord würfen. Wenn ein Matrose auf hoher See stirbt, wird es auch so gemacht: Seine Kameraden werfen ihn ins Wasser. Ja, das gefiel Isabel sehr. Wir würden aufs Dach klettern und so tun, als stünden wir an Deck eines Schiffs. Die Luft wäre das Wasser, und die Straße wäre der Meeresgrund. Ferdinand bekäme ein Seemansbegräbnis, und von da an würde er der See gehören. Dieser Plan hatte etwas so Einleuchtendes, dass jegliche weitere Diskussion sich erübrigte. Ferdinand bekäme sein Seemannsgrab, und endlich könnten die Haie ihn zu den Ihren zählen.
    Das Ganze erwies sich leider als nicht so einfach, wie es schien. Zwar lag die Wohnung im obersten Stockwerk des Gebäudes, doch gab es zum Dach keine Treppe. Der einzige Zugang führte über eine schmale Eisenleiter durch eine Luke in der Decke – eine Art Falltür, die man von innen aufstoßen konnte. Die Leiter hatte etwa ein Dutzend Sprossen und war höchstens sieben bis acht Fuß hoch, aber das änderte nichts daran, dass Ferdinand mit einer Hand senkrecht hochgezogen werden musste, während man sich mit der anderen Hand festhielt, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Isabel konnte dabei nicht viel helfen, also musste ich es allein tun. Erst versuchte ich, ihn von unten hinaufzuschieben, dann ihn von oben zu ziehen, aber ich schien einfach nicht die Kraft dazu zu haben. Er war mir zu schwer, zu groß, zu sperrig; und dann diese erstickende Hitze. Schweiß rann mir in die Augen, und ich wusste kaum noch weiter. Schon begann ich mich zu fragen, ob wir nicht eine ähnliche Wirkung erzielen könnten, wenn wir Ferdinand in die Wohnung zurückschleiften und aus dem Fenster stießen; was freilich nicht so dramatisch wäre, mir unter diesen Umständen aber als annehmbarer Ausweg erschien. Doch als ich gerade aufgeben wollte, hatte Isabel eine Idee. Wir würden Ferdinand in ein Laken wickeln, sagte sie, dann ein zweites Laken daranknüpfen und das Bündel damit nach oben ziehen. Das wäre auch nicht leicht, aber immerhin ersparte es mir, gleichzeitig klettern und tragen zu müssen. Ich stieg aufs Dach und zog Ferdinand Sprosse für Sprosse hoch. Isabel stand unten, dirigierte das Bündel und sorgte dafür, dass es nicht hängenblieb, und schließlich kam die Leiche nach oben. Dann legte ich mich flach auf den Bauch, streckte die Hand nach unten ins Dunkel aus und half Isabel herauf. Ich will nicht davon reden, wie oft sie abrutschte, beinahe stürzte und kurz vor dem Aufgeben war. Als sie endlich durch die Falltür kroch und sich langsam an meine Seite schleppte, waren wir beide so erschöpft, dass wir auf der heißen Teerpappe zusammenbrachen und mehrere Minuten lang nicht mehr hochkamen, unfähig, uns überhaupt noch zu bewegen. Ich weiß noch, wie ich da auf dem Rücken lag, in den Himmel sah und meinem Körper zu entschweben glaubte, mühsam um Atem ringend und vollkommen erschlagen von der grellen, alles versengenden Sonne.
    Das Gebäude war nicht sonderlich hoch. Trotzdem war ich seit meiner Ankunft in der Stadt noch nie so hoch über dem Erdboden gewesen. Eine leichte Brise begann die Dinge hin und her zu treiben, und als ich schließlich auf die Füße kam und auf die wirre Welt da unten hinabblickte, entdeckte ich zu meiner Verblüffung den Ozean – am äußersten Horizont, in

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