Im Land der letzten Dinge (German Edition)
tot ist, dachte ich. Als ich die Wohnung verließ, hatte er gelebt, und es war ausgeschlossen, dass meine Hände das getan hatten. Ich wollte ihm den Mund schließen, aber der Kiefer war schon steif, so dass ich ihn nicht bewegen konnte. Ich hätte ihm schon die Knochen im Gesicht brechen müssen, und dazu fehlte mir die Kraft.
«Isabel», sagte ich ganz leise. «Du solltest wohl mal herkommen.»
«Stimmt was nicht?», fragte sie. Ihrer Stimme war nicht anzumerken, ob sie wusste, was sie erwartete.
«Komm her und sieh es dir selbst an.»
Wie sie es in letzter Zeit stets zu tun gezwungen war, schlurfte Isabel auf ihren Stuhl gestützt durchs Zimmer heran. In Ferdinands Ecke hievte sie sich auf ihren Stuhl zurück, verschnaufte kurz und sah dann auf die Leiche nieder. Mehrere Sekunden lang starrte sie völlig abwesend hin und zeigte keinerlei Gefühlsregung. Und dann begann sie ganz plötzlich ohne die leiseste Geste tonlos zu weinen – scheinbar fast unbewusst entströmten die Tränen ihren Augen, rannen ihr über die Wangen. Kleine Kinder weinen manchmal so – ohne jedes Schluchzen und Luftholen: Wasser, das gleichmäßig aus zwei identischen Hähnen fließt.
«Ich glaube nicht, dass Ferdinand je wieder aufwacht», sagte sie, ohne den Blick von der Leiche zu wenden. Es war, als könne sie nirgendwo anders hinsehen, als würden ihre Augen sich nie mehr von diesem Anblick losreißen können.
«Was glaubst du, ist geschehen?»
«Das weiß Gott allein, meine Liebe. Ich will mir nicht anmaßen, darüber zu spekulieren.»
«Er muss im Schlaf gestorben sein.»
«Ja, das klingt ganz vernünftig. Er muss im Schlaf gestorben sein.»
«Wie fühlst du dich, Isabel?»
«Ich weiß nicht. Es ist noch zu früh. Aber im Augenblick bin ich wohl glücklich. Ich weiß, es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich glaube, ich bin sehr glücklich.»
«Das ist nicht schrecklich. Dir steht wie jedem anderen ein wenig Frieden zu.»
«Nein, meine Liebe, es ist schrecklich. Aber ich kann nichts dafür. Ich hoffe, Gott wird mir verzeihen. Ich hoffe, er wird es übers Herz bringen, mich nicht für das zu bestrafen, was ich jetzt empfinde.»
Den ganzen Vormittag war Isabel mit Ferdinands Leiche zugange. Helfen lassen wollte sie sich nicht, und so saß ich etliche Stunden in meiner Ecke und sah ihr zu. Natürlich war es sinnlos, Ferdinand anzuziehen, aber Isabel ließ sich nicht davon abbringen. Sie wollte, dass er so aussehe wie vor vielen Jahren, ehe Zorn und Selbstmitleid ihn zerstört hatten.
Sie wusch ihn mit Seife und Wasser, nahm ihm den Bart ab, schnitt seine Nägel und zog ihm dann den blauen Anzug an, den er früher zu besonderen Anlässen getragen hatte. Mehrere Jahre lang hatte sie diesen Anzug unter einem losen Dielenbrett versteckt gehalten, aus Angst, Ferdinand würde sie zwingen, ihn zu verkaufen, falls er ihn einmal finden sollte. Jetzt war ihm der Anzug zu groß, und sie musste ein neues Loch in seinen Gürtel bohren, um die Hose um seine Taille befestigen zu können. Isabel arbeitete unglaublich langsam, mühte sich an jeder Kleinigkeit mit aufreizender Pedanterie, ohne je innezuhalten, ohne je schneller zu machen, und nach einer Weile begann es mir auf die Nerven zu gehen. Ich wollte das alles so schnell wie möglich erledigt sehen, aber Isabel beachtete mich überhaupt nicht. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie mich gar nicht wahrzunehmen schien. Dabei redete sie fortwährend auf Ferdinand ein, machte ihm mit sanfter Stimme Vorwürfe, plapperte herum, als könnte er sie hören, als bekäme er jedes ihrer Worte mit. In Anbetracht seines noch immer in jener grässlichen Todesfratze erstarrten Gesichts wird er wohl auch keine andere Wahl gehabt haben, als sie reden zu lassen. Immerhin war dies ihre letzte Gelegenheit, und dieses eine Mal war er außerstande, sie zu unterbrechen.
Bis gegen Mittag zog sich das so hin – sie kämmte ihm das Haar, bürstete die Flusen von seinem Jackett und richtete ihn immer wieder aufs Neue her, als würde sie eine Puppe aufputzen. Als es endlich vorbei war, mussten wir entscheiden, was wir mit der Leiche tun sollten. Ich war dafür, Ferdinand nach unten zu tragen und auf der Straße liegen zu lassen, aber Isabel fand das herzlos. Zum allermindesten, sagte sie, sollten wir ihn in den Plündererwagen legen und durch die Stadt zu einem der Transformationszentren schieben. Ich war aus mehreren Gründen dagegen. Erstens war Ferdinand zu groß, und außerdem war es riskant, den
Weitere Kostenlose Bücher