Im Land der letzten Dinge (German Edition)
dieses Zischen, ein unvorstellbar wirrer und qualvoller Grabgesang. Isabel brach in Tränen aus, als sie sich an diesem Morgen hörte und mein verständnisloses Gesicht bemerkte, und ich glaube, nie hat mir jemand so leidgetan wie sie in diesem Augenblick. Stück für Stück war ihr die Welt entglitten, und jetzt war praktisch nichts mehr davon übrig.
Aber das war noch nicht ganz das Ende. Noch etwa zehn Tage lang hatte Isabel Kraft genug, mir mit Bleistift schriftliche Mitteilungen zu machen. Eines Nachmittags begab ich mich zu einem Auferstehungsagenten und erwarb ein großes Notizbuch mit blauem Umschlag. Sämtliche Seiten waren leer, und das machte es ziemlich kostspielig, denn brauchbare Notizbücher sind in der Stadt außerordentlich schwer zu bekommen. Aber mir schien es den Preis durchaus wert, so teuer es auch sein mochte. Ich hatte mit diesem Agenten – Mr. Gambino, dem Buckligen aus der China Street – schon früher Geschäfte gemacht, und ich weiß noch, wie wir beide fast eine halbe Stunde lang erbittert und schier bis aufs Blut darum feilschten. Ich schaffte es zwar nicht, den Preis für das Notizbuch zu drücken, aber am Ende gab er mir sechs Bleistifte und einen kleinen Plastikspitzer gratis dazu.
In eben dieses blaue Notizbuch schreibe ich jetzt, so seltsam das auch scheinen mag. Isabel hat nicht mehr viel davon gehabt, kaum fünf oder sechs Seiten konnte sie noch beschreiben, und nach ihrem Tod brachte ich es nicht fertig, es fortzuwerfen. Ich nahm es auf meine Streifzüge mit und trage es seither immer bei mir – das blaue Notizbuch: samt den sechs gelben Bleistiften und dem grünen Spitzer. Hätte ich diese Dinge nicht neulich in meiner Tasche gefunden, würde ich wohl kaum angefangen haben, dir zu schreiben. Aber da hatte ich nun dieses Notizbuch mit all den leeren Seiten, und plötzlich überkam mich ein unwiderstehlicher Drang, einen der Bleistifte zu nehmen und diesen Brief zu beginnen. Inzwischen ist dies für mich das Einzige, was noch zählt: mich endlich aussprechen zu können, das alles auf diesen Seiten festzuhalten, bevor es zu spät ist. Ich erschauere bei der Vorstellung, wie eng das alles zusammenhängt. Hätte Isabel nicht ihre Stimme verloren, existierte keines dieser Worte. Weil sie keine Worte mehr hatte, sind aus mir diese anderen Worte herausgekommen. Ich möchte, dass du das nicht vergisst. Ohne Isabel stünde hier nichts. Ich hätte niemals damit angefangen.
Was sie am Ende umbrachte, war dasselbe, was ihr die Stimme genommen hatte. Ihre Kehle versagte schließlich vollständig den Dienst, so dass sie nicht mehr schlucken konnte. An feste Nahrung war nun nicht mehr zu denken, aber bald bekam sie nicht einmal mehr Wasser herunter: Mir blieb nur noch, ihr die Lippen mit Wasser anzufeuchten, damit ihr der Mund nicht austrocknete, aber wir wussten beide, dass es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war, da sie buchstäblich zu Tode hungerte, sich mangels jeglicher Nahrungszufuhr verzehrte. Es war merkwürdig, aber einmal, ganz am Ende, glaubte ich sogar zu bemerken, dass Isabel mir zulächelte, als ich neben ihr saß und ihre Lippen mit Wasser betupfte. Absolut sicher kann ich mir da freilich nicht sein, denn zu diesem Zeitpunkt war sie schon sehr weit weg von mir, aber ich stelle mir gerne vor, dass es ein Lächeln war, auch wenn Isabel gar nicht mehr wusste, was sie tat. Sie war wegen ihrer Krankheit so untröstlich gewesen, so zerknirscht darüber, in allem auf mich angewiesen zu sein; dabei stand fest, dass ich sie ebenso sehr brauchte wie sie mich. Unmittelbar nach diesem Lächeln, falls es ein Lächeln war, begann Isabel an ihrem eigenen Speichel zu ersticken. Sie konnte ihn einfach nicht mehr schlucken, und obwohl ich ihr den Mund mit den Fingern zu säubern versuchte, rann ihr zu viel davon in die Kehle zurück, und bald bekam sie keine Luft mehr. Die Geräusche, die sie da von sich gab, waren entsetzlich, aber so schwach, ließen so wenig echte Gegenwehr erkennen, dass es nicht sehr lange dauerte.
Noch am selben Tag stellte ich etliche Gegenstände aus der Wohnung zusammen, packte sie in meinen Wagen und brachte sie zur Progress Avenue in die achte Zensuszone hinüber. Meine Gedanken waren nicht sehr klar – ich weiß sogar noch, dass ich mir dessen damals bewusst war –, aber das behinderte mich nicht im Geringsten. Ich verkaufte Geschirr, Kleider, Bettzeug, Töpfe, Pfannen und weiß Gott was noch alles – was immer mir in die Hände gefallen war. Es war eine
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