Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Gegen sechs, so schätzte ich, würde die Hölle los sein: Ferdinand würde durchs Zimmer toben, mit den Armen herumfuchteln und mich mit Schaum vor dem Mund eines Verbrechens nach dem anderen beschuldigen. Es konnte gar nicht anders kommen. Unsicher war ich nur, wie Isabel darauf reagieren würde. Mein Instinkt sagte mir, sie würde sich auf meine Seite stellen, aber sicher war das nicht. Man kann nie wissen, was für Loyalitäten im entscheidenden Augenblick aufbrechen, was für Konflikte sich ergeben können, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich versuchte mich auf das Schlimmste vorzubereiten – und wusste, dass ich noch am selben Tag wieder auf der Straße sein würde, wenn das Blatt sich gegen mich wendete.
Isabel erwachte wie gewöhnlich als Erste. Das war keine leichte Sache für sie, denn morgens waren die Schmerzen in ihren Beinen meistens am heftigsten, und oft brauchte sie zwanzig oder dreißig Minuten, bis sie den Mut fand, aufzustehen. An diesem Morgen fiel es ihr besonders schwer, und während sie langsam daran ging, sich hochzurappeln, hantierte ich wie gewöhnlich in der Wohnung herum und versuchte mich so zu benehmen, als wäre nichts geschehen: Wasser aufsetzen, Brot schneiden, Tisch decken – der übliche Trott. In der Regel schlief Ferdinand morgens bis zur allerletzten Minute, rührte sich erst, wenn er den Haferbrei auf dem Ofen riechen konnte, daher schenkten wir beide ihm auch jetzt keinerlei Beachtung. Sein Gesicht war der Wand zugedreht, und allem Anschein nach klammerte er sich bloß ein wenig hartnäckiger als sonst an den Schlaf. Angesichts dessen, was er in der Nacht zuvor durchgemacht hatte, leuchtete mir das durchaus ein, und ich dachte nicht weiter darüber nach.
Schließlich wurde sein Schweigen dann aber doch auffällig. Isabel und ich hatten unsere diversen Vorbereitungen abgeschlossen und waren bereit, uns zum Frühstück hinzusetzen. Normalerweise hätte jetzt eine von uns Ferdinand geweckt, doch an diesem Morgen aller Morgen blieben wir beide stumm. Eine seltsame Unlust schien im Raum zu schweben, und nach einer Weile begann ich zu spüren, dass wir das Thema absichtlich umgingen, dass jede von uns beschlossen hatte, die andere zuerst reden zu lassen. Ich hatte natürlich meine Gründe zu schweigen, aber Isabels Verhalten überraschte mich sehr. Etwas Unheimliches steckte dahinter, eine Spur von Trotz und Anspannung, als habe sich unmerklich etwas in ihr verändert. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Vielleicht habe ich mich in der vorangegangenen Nacht getäuscht, dachte ich. Vielleicht war sie wach gewesen; vielleicht hatte sie die Augen offen gehabt und die ganze abscheuliche Sache mitangesehen.
«Fehlt dir was, Isabel?», fragte ich.
«Nein, meine Liebe. Was sollte mir fehlen?», sagte sie und schenkte mir ihr unsicheres, engelhaftes Lächeln.
«Meinst du nicht, wir sollten Ferdinand wecken? Du weißt doch, wie er sich aufführt, wenn wir ohne ihn anfangen. Er soll nicht auf den Gedanken kommen, dass wir ihn um seinen Anteil betrügen.»
«Nein, das tun wir wohl auch kaum», sagte sie mit einem leisen Seufzer. «Ich habe nur eben diesen gemeinsamen Augenblick genossen. Wir kommen nur noch so selten dazu, allein miteinander zu sein. Ein stilles Haus hat doch etwas Zauberhaftes, findest du nicht?»
«Doch, Isabel, ja. Aber ich finde auch, dass wir Ferdinand jetzt wecken sollten.»
«Wenn du darauf bestehst. Ich habe nur versucht, die Stunde der Abrechnung hinauszuzögern. Das Leben kann doch so wunderbar sein, sogar in Zeiten wie diesen. Es ist ein Jammer, dass manche Leute nichts anderes im Sinn haben, als es einem zu verderben.»
Ich erwiderte nichts auf diese mysteriösen Bemerkungen. Irgendetwas stimmte offensichtlich nicht, und so langsam ahnte ich, was es war. Ich ging in Ferdinands Ecke hinüber, hockte mich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Nichts geschah. Ich rüttelte an der Schulter, und als Ferdinand sich noch immer nicht rührte, rollte ich ihn auf den Rücken. Im ersten Moment sah ich überhaupt nichts. Mich durchfuhr nur ein Gefühl, ein brennender Tumult von Gefühlen. Das ist ein Toter, sagte ich mir. Ferdinand ist ein toter Mann, und ich sehe ihn mit eigenen Augen an. Erst als ich mir dies gesagt hatte, merkte ich, in was für einem Zustand sein Gesicht war: die Augen waren aus ihren Höhlen hervorgetreten, die Zunge hing ihm aus dem Mund, um seine Nase klebte angetrocknetes Blut. Es kann nicht sein, dass Ferdinand
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