Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Ferdinand – nicht über sein Leben, nicht über seinen Tod, über gar nichts. Es fiel mir schwer zu glauben, dass Isabel die Kraft oder den Mut aufgebracht haben sollte, ihn zu töten, aber das war die einzige Erklärung, die mir einleuchtete. Oft war ich in Versuchung, sie nach jener Nacht zu fragen, aber ich brachte es nicht über mich. Schließlich war das Isabels Sache, und solange sie nicht darüber reden wollte, glaubte ich kein Recht dazu zu haben.
So viel stand fest: Keine von uns bedauerte, dass er nicht mehr da war. Ein paar Tage nach der Zeremonie auf dem Dach suchte ich all seine Habseligkeiten zusammen und verkaufte sie, einschließlich der Schiffsmodelle und einer halbleeren Tube Leim, und Isabel sagte kein Wort dazu. Eigentlich hätte dies für sie eine Zeit des Neuanfangs sein können, aber es kam ganz anders. Mit ihrer Gesundheit ging es weiter bergab, und sie war nicht mehr in der Lage, aus dem Leben ohne Ferdinand noch einen Nutzen zu ziehen. Tatsächlich hat sie, nach jenem Tag auf dem Dach, die Wohnung nie mehr verlassen.
Ich wusste, dass Isabel sterben würde, aber ich glaubte nicht, dass es so schnell geschehen würde. Es begann damit, dass sie nicht mehr gehen konnte, und danach breitete sich die Schwäche langsam immer weiter aus, bis ihr nicht mehr nur die Beine den Dienst versagten, sondern alles, von den Armen bis zum Rückgrat und schließlich sogar Hals und Mund. Es handle sich um eine Art von Sklerose, erklärte sie mir, die unheilbar sei. Ihre Großmutter war vor langer Zeit an derselben Krankheit gestorben, auf die Isabel übrigens stets nur mit «der Kollaps» oder «der Verfall» anspielte. Ich konnte ihr die Sache zwar erleichtern, darüber hinaus aber war nichts zu machen.
Das Schlimmste daran war, dass ich weiterarbeiten musste. Jeden Morgen aus dem Bett und auf die Straße, um aufzustöbern, was sich nur finden ließ. Ich war nicht mehr mit dem Herzen dabei, und es fiel mir immer schwerer, irgendetwas von Wert aufzutreiben. Ständig vertrödelte ich mich, indem meine Gedanken eine und meine Schritte eine andere Richtung einschlugen, unfähig, mich rasch und zielstrebig zu bewegen. Immer wieder kamen mir andere Materialjäger zuvor. Sie schienen aus dem Nichts herabzustoßen und schnappten mir die Sachen weg, wenn ich sie gerade aufheben wollte. Dies hatte zur Folge, dass ich immer länger draußen bleiben musste, um mein Pensum zu erfüllen, während mich ständig der Gedanke quälte, dass ich eigentlich zu Hause sein und mich um Isabel kümmern sollte. Unablässig malte ich mir aus, ihr könnte in meiner Abwesenheit etwas zustoßen, sie würde ohne meinen Beistand sterben, und das allein war genug, mich völlig aus der Bahn zu werfen, mich meine Arbeit vergessen zu lassen. Und glaube mir, diese Arbeit musste getan werden. Denn sonst hätten wir nichts zu essen gehabt.
Als es aufs Ende zuging, war Isabel nicht mehr in der Lage, sich aus eigener Kraft zu bewegen. Ich versuchte, sie stabil im Bett aufzusetzen, doch da sie ihre Muskeln kaum noch beherrschte, rutschte sie jedes Mal nach wenigen Minuten wieder ab. Diese Lageveränderungen waren eine Tortur für sie, und sobald ihr Körper nur den Boden berührte, glaubte sie schon bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Die Schmerzen waren aber nur ein Teil des Problems. Der Zerfall von Muskeln und Knochen setzte sich schließlich bis in ihren Hals fort, und nun begann Isabel ihr Sprechvermögen zu verlieren. Verfall des Körpers ist eine Sache, aber wenn dann auch noch die Stimme versagt, kommt es einem vor, als sei die betreffende Person gar nicht mehr vorhanden. Es begann mit einer gewissen Nachlässigkeit der Artikulation – die Worte kamen genuschelt, die Konsonanten wurden weicher und undeutlicher und hörten sich nach und nach immer mehr wie Vokale an. Anfangs schenkte ich dem kaum Beachtung. Ich hatte an Wichtigeres zu denken, und in diesem Stadium war sie immerhin noch ohne große Mühe zu verstehen. Aber dann wurde es stetig schlimmer, ich musste mich anstrengen, um hinter den Sinn dessen zu kommen, was sie mir zu sagen versuchte, wobei es mir am Ende zwar stets gelang, es zu begreifen, doch Tag für Tag mit größeren Schwierigkeiten. Eines Morgens schließlich war es kein Sprechen mehr. Sie gurgelte und stöhnte, versuchte mir etwas zu sagen, brachte aber bloß ein zusammenhangloses Zischen zustande, ein furchtbares Geräusch, das wie das reinste Chaos klang. Speichel rann ihr aus den Mundwinkeln, und dazu ständig
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