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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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bei Nacht), aber ich war zu schwach und niedergeschlagen, um aus dem Bett kommen zu wollen. Apathisch und elend brütete ich unter meinen Decken, brach unvermittelt in Tränen aus. Inzwischen war es Frühling geworden, und ich verbrachte die meiste Zeit damit, aus dem Fenster nach den Wolken zu sehen, die Leiste oben an den Wänden zu betrachten oder die Risse in der Decke anzustarren. Ich glaube, in den ersten zehn oder zwölf Tagen ist es mir nicht einmal gelungen, durch die Tür auf den Flur zu gehen.
    Woburn House – ein vierstöckiges Wohngebäude mit über zwanzig Zimmern – stand etwas abseits von der Straße mitten in einem kleinen privaten Park. Es war vor fast hundert Jahren von Dr. Woburns Großvater erbaut worden und galt als einer der elegantesten Wohnsitze der Stadt. Als die Zeit der Unruhen begann, war Dr. Woburn einer der Ersten, die auf die wachsende Zahl der Obdachlosen aufmerksam machten. Da er ein angesehener Arzt war und einer bedeutenden Familie entstammte, wurden seine Stellungnahmen von der Öffentlichkeit stark beachtet, und bald war es in wohlhabenden Kreisen Mode, sein Anliegen zu unterstützen. Es gab Wohltätigkeitsbälle und -essen und andere gesellschaftliche Ereignisse, und schließlich wurde eine Reihe von Gebäuden in der Stadt zu Notunterkünften umgebaut. Dr. Woburn gab seine Privatpraxis auf, um diese Übergangshäuser, wie sie genannt wurden, zu verwalten, und jeden Morgen ließ er sich von seinem Chauffeur zu ihnen fahren, sprach mit den Leuten, die dort wohnten, und leistete ihnen jedweden ärztlichen Beistand. Seine Güte und sein Idealismus verhalfen ihm zu legendärem Ruhm in der Stadt, und wann immer die Leute von der Barbarei der Zeiten sprachen, wurde sein Name als Beweis dafür genannt, dass edle Taten noch immer möglich seien. Doch das war vor langer Zeit, als man sich noch nicht vorstellen konnte, dass der Verfall der Dinge ein solches Ausmaß annehmen würde, wie er es dann tat. Nach und nach, mit der Verschlechterung der Umstände, wurde der Erfolg von Dr. Woburns Projekt untergraben. Die obdachlose Bevölkerung wuchs in gewaltiger geometrischer Progression, während das Geld für die Finanzierung der Notunterkünfte im gleichen Maß dahinschwand. Die Reichen machten sich aus dem Staub, stahlen sich mit ihrem Gold und ihren Diamanten aus dem Land, und die Zurückgebliebenen konnten es sich nicht mehr leisten, großzügig zu sein. Der Arzt steckte enorme Beträge seines eigenen Geldes in die Unterkünfte, was aber nicht verhinderte, dass sie eingingen und eine nach der anderen schließen musste. Ein anderer hätte jetzt vielleicht aufgegeben, er aber weigerte sich, das Unternehmen so enden zu lassen. Wenn er nicht Tausende retten könne, pflegte er zu sagen, dann vielleicht Hunderte, und wenn nicht Hunderte, dann vielleicht zwanzig oder dreißig. Die Zahlen spielten keine Rolle mehr. Zu viel war inzwischen geschehen, und er wusste, jegliche Hilfe, die er anbieten konnte, war bloß noch symbolisch – eine Geste gegen den totalen Zusammenbruch. Das ist sieben oder acht Jahre her, da war Dr. Woburn bereits weit über sechzig. Unterstützt von seiner Tochter beschloss er, sein eigenes Haus für die Fremden zu öffnen, und baute die unteren beiden Stockwerke des Familienwohnsitzes zu einer kombinierten Klinik und Notunterkunft um. Es wurden Betten angeschafft und Küchenvorräte gekauft, und um das Unternehmen am Leben zu erhalten, brauchten sie nach und nach die verbliebenen Aktiva des Woburn’schen Vermögens auf. Als das Bargeld erschöpft war, begannen sie Erbstücke und Antiquitäten zu verkaufen und leerten so allmählich die oberen Zimmer. Beständige, zermürbende Anstrengungen ermöglichten es ihnen, zu jeder beliebigen Zeit achtzehn bis vierundzwanzig Personen ein Obdach zu geben. Notleidende durften zehn Tage dort wohnen; Schwerkranke konnten länger bleiben. Jeder bekam ein sauberes Bett und zwei warme Mahlzeiten am Tag. Natürlich löste dies kein einziges Problem, aber immerhin wurde den Leuten eine Ruhepause von ihren Schwierigkeiten gewährt, eine Chance, Kraft zu sammeln, bevor sie weiterzogen. «Wir können nicht viel tun», pflegte der Arzt zu sagen. «Aber das wenige, das wir tun können, tun wir auch.»
    Dr. Woburn war gerade vier Monate tot, als ich nach Woburn House kam. Victoria und die anderen mühten sich nach Kräften, ohne ihn weiterzumachen, doch waren gewisse Veränderungen unabdingbar gewesen – vor allem in medizinischer Hinsicht, da

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