Im Land der letzten Dinge (German Edition)
dunkle Wahrheit aufzugehen. «Ich würde mich niemals umbringen», sagte ich noch einmal. «Ich bekomme ein Kind, wissen Sie, und warum sollte eine schwangere Frau sich umbringen? Da müsste sie ja verrückt sein.»
Aus der Veränderung, die in ihrem Gesicht vorging, schloss ich sofort, was geschehen war. Ich wusste es, ohne dass man mir es sagen musste. Mein Kind war nicht mehr in mir. Der Sturz war zu viel für es gewesen, und jetzt war es tot. Ich kann dir nicht sagen, wie trostlos mir in diesem Augenblick alles wurde. Das nackte, tierische Elend überkam mich, und es waren keine Phantasien darin, keine Gedanken, gar nichts. Ich muss zu weinen begonnen haben, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte.
«Es ist ja überhaupt ein Wunder, dass es Ihnen gelungen ist, schwanger zu werden», sagte sie und streichelte mir die Wange. «Hier werden keine Kinder mehr geboren. Das wissen Sie so gut wie ich. Es ist seit Jahren nicht mehr vorgekommen.»
«Ist mir doch egal», sagte ich wütend und versuchte meine Schluchzer zu übertönen. «Sie irren sich. Mein Kind wäre am Leben gewesen. Ich weiß, dass mein Kind am Leben gewesen wäre.»
Jedes Mal wenn meine Brust sich zusammenkrampfte, jagte ein Schmerz durch meine Rippen. Ich versuchte diese Konvulsionen zu unterdrücken, aber das machte sie nur umso heftiger. Die Mühe, mich ruhig zu halten, machte mich zittern, und dies wiederum entfesselte eine neue Serie von unerträglichen Krämpfen. Victoria versuchte mich zu trösten, aber ich wollte ihren Trost nicht. Ich wollte niemandes Trost. «Bitte gehen Sie», sagte ich schließlich. «Ich möchte jetzt ganz allein sein. Sie sind sehr nett zu mir gewesen, aber jetzt muss ich allein sein.»
Es dauerte lange, bis meine Verletzungen ausgeheilt waren. Die Schnittwunden in meinem Gesicht verschorften ohne bleibenden Schaden (eine Narbe auf meiner Stirn und eine andere dicht an der Schläfe), und meine Rippen heilten schließlich. Der gebrochene Arm jedoch wuchs nicht glatt zusammen und macht mir noch heute oft zu schaffen: er schmerzt, wann immer ich ihn zu abrupt oder in die falsche Richtung bewege, und lässt sich nicht mehr ganz ausstrecken. Mein Kopf blieb fast einen Monat lang bandagiert; die Beulen und Schrammen verschwanden, doch neige ich seither zu Kopfschmerzen: messerscharfe Migränen, die aus heiterem Himmel zuschlagen, und gelegentlich ein dumpf pochendes Stechen im Hinterkopf. Was das andere Ungemach angeht, so rede ich nur ungern davon. Mein Bauch ist mir ein Rätsel, und die Katastrophe, die darin stattgefunden hat, wird mir immer unbegreiflich bleiben.
Der körperliche Schaden war jedoch nicht das einzige Problem. Nur Stunden nach meinem ersten Gespräch mit Victoria kamen neue schlechte Nachrichten, und da gab ich beinahe auf, wollte fast nicht mehr weiterleben. Als sie mir am frühen Abend ein Tablett mit Essen ins Zimmer brachte, sagte ich ihr, wie dringend es wäre, dass jemand zur Nationalbibliothek ginge und Sam aufsuchte. Er würde sich zu Tode ängstigen, sagte ich, und ich wollte ihn jetzt bei mir haben. Sofort , brüllte ich, ich will ihn sofort bei mir haben. Ich geriet plötzlich außer mich und begann hemmungslos zu schluchzen. Willie, der fünfzehnjährige Junge, wurde losgeschickt, kam aber mit einer niederschmetternden Neuigkeit zurück. Am Nachmittag sei in der Nationalbibliothek Feuer ausgebrochen, berichtete er, und das Dach sei bereits eingestürzt. Niemand wisse, wie es angefangen habe, aber inzwischen stehe das ganze Gebäude in Flammen, und angeblich seien über hundert Menschen im Innern eingeschlossen. Noch sei ungewiss, ob jemand habe entkommen können; es gebe da einander widersprechende Gerüchte. Aber selbst wenn Sam zu den Glücklichen gezählt hätte, wäre weder Willie noch sonst jemand in der Lage gewesen, ihn zu finden. Und wenn er mit den anderen umgekommen war, dann hatte ich alles verloren. Daran führte kein Weg vorbei. Wenn er tot war, hatte ich kein Recht zu leben. Und wenn er lebte, dann stand so gut wie fest, dass ich ihn niemals wiedersehen würde.
Mit diesen Tatsachen hatte ich während der ersten Monate in Woburn House fertig zu werden. Es war eine dunkle Zeit für mich, dunkler als alles, was ich je erlebt habe. Anfangs blieb ich in dem oberen Zimmer. Dreimal täglich kam jemand zu mir – zweimal, um Essen zu bringen, und einmal, um das Nachtgeschirr zu leeren. Von unten waren ständig Leute zu hören (Stimmen, Füßescharren, Stöhnen und Lachen, Heulen, Schnarchen
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