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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zu bestehen, wird sein Vetter ihm allmählich erlauben, auf eigene Faust Geschäfte abzuschließen. Du siehst, wie schlau ich sein wollte. Ich glaubte, Dujardin überlegen zu sein, und daher wandelten mich keinerlei Bedenken an.
    Es war ein gleißender Nachmittag. Überall Sonnenlicht, und der Wind trug uns geradezu in seinen Armen. Ich fühlte mich wie jemand, der von einer langen Krankheit genesen war – ich durfte das Licht wieder erleben, meine Beine spüren, die sich unter mir im Freien bewegten. Wir gingen in flottem Tempo, wichen zahllosen Hindernissen aus, umschritten leichtfüßig die vom Winter zurückgelassenen Trümmerhaufen und wechselten auf dem ganzen Weg kaum ein einziges Wort. Der Frühling stand jetzt unabweisbar vor der Tür, wenn auch in den Schatten der Häuser noch immer Schnee und Eis anzutreffen waren und auf den Straßen, wo die Sonne am kräftigsten hinschien, breite Bäche zwischen aufgewühlten Steinen und zerbröckelndem Asphalt dahinrauschten. Meine Schuhe waren nach zehn Minuten aufs jämmerlichste zugerichtet, innen wie außen: die Socken durchweicht, die Zehen klamm und schlüpfrig von dem kalten Sickerwasser. Es mag merkwürdig anmuten, dass ich all diese Einzelheiten jetzt erwähne, aber sie habe ich von diesem Tag am lebhaftesten behalten – das Glücksgefühl auf diesem Gang, das heitere, fast trunkene Gefühl des Gehens. Später, nachdem wir unser Ziel erreicht hatten, geschah alles viel zu schnell, als dass ich mich daran erinnern könnte. Wenn ich das jetzt vor mir sehe, dann nur in wirren, gebündelten Blitzen, isolierten Bildern jenseits jeden Zusammenhangs, Salven von Licht und Schatten. Das Haus zum Beispiel hat keinerlei Eindruck bei mir hinterlassen. Ich erinnere mich, dass es am Rand des Warenhaus-Bezirks in der achten Zensuszone stand, nicht weit von da, wo Ferdinand früher seine Schilderwerkstatt gehabt hatte – aber das kam nur daher, dass Isabel mir die Straße einmal im Vorbeigehen gezeigt hatte und ich mich deshalb auf vertrautem Terrain zu befinden meinte. Vielleicht war ich zu abgelenkt, um die Oberfläche der Dinge wahrzunehmen, zu sehr in Gedanken versunken, um an irgendetwas anderes denken zu können als an Sams Freude, wenn ich zurückkäme. Und so weiß ich von der Fassade des Hauses rein gar nichts mehr. Desgleichen von unserem Eintritt durch die Vordertür und dem Aufstieg über mehrere Treppenabsätze. Es ist, als wäre all das nie geschehen, obwohl mir das Gegenteil natürlich vollkommen klar ist. Das erste Bild, das ich mit einiger Deutlichkeit vor mir sehe, ist das Gesicht von Dujardins Vetter. Vielleicht nicht so sehr sein Gesicht, sondern die Feststellung, dass er die gleiche Drahtbrille trug wie Dujardin, und die Überlegung – ganz kurz nur, für den Bruchteil eines Augenblicks –, ob sie die wohl beim selben Händler gekauft hätten. Ich glaube kaum, dass ich länger als ein oder zwei Sekunden in dieses Gesicht geschaut habe, denn eben als er vortrat, um mir die Hand zu schütteln, ging hinter ihm eine Tür auf – anscheinend zufällig, denn ihr Geräusch, als sie sich in den Angeln drehte, ließ seine Miene von Herzlichkeit zu jäher Panik wechseln, und er wandte sich hastig um und schloss sie wieder, ohne mir zuvor noch die Hand zu geben –, und in diesem Moment begriff ich, dass ich betrogen worden war, dass mein Besuch dort überhaupt nichts mit Schuhen oder Geld oder irgendeinem Geschäft zu tun hatte. Denn genau da, in dem winzigen Zeitraum zwischen dem Auf- und Zugehen dieser Tür, konnte ich deutlich in den Raum dahinter sehen, und was ich da sah, war ganz unzweideutig: drei oder vier menschliche Leichen, die nackt an Fleischerhaken hingen, und einen Mann mit einem Beil, der sich über einen Tisch beugte und einer weiteren Leiche die Gliedmaßen abhackte. In der Bibliothek waren Gerüchte von Menschen-Schlachthäusern kursiert, aber ich hatte nicht daran geglaubt. Nun, durch das zufällige Aufschwingen der Tür hinter Dujardins Vetter, hatte ich einen Blick auf das Schicksal werfen können, das diese Männer mir zugedacht hatten. An dieser Stelle begann ich wohl zu schreien. Manchmal höre ich mich sogar das Wort «Mörder» brüllen, immer und immer wieder. Aber das kann nicht sehr lange gedauert haben. Es ist unmöglich, meine Gedanken von diesem Zeitpunkt an zu rekonstruieren, unmöglich in Erfahrung zu bringen, ob ich da überhaupt gedacht habe. Ich sah links von mir ein Fenster und rannte darauf zu. Ich erinnere mich, dass

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