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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Dujardin und sein Vetter auf mich losstürzten, aber ich rannte mit voller Wucht durch ihre ausgestreckten Arme und krachte durch das Fenster. Ich erinnere mich an das Klirren der Scheibe und an die Luft, die mir ins Gesicht schlug. Es muss ein langer Fall gewesen sein. Jedenfalls lange genug, um zu merken, dass ich fiel. Lange genug, um zu wissen, dass ich tot sein würde, sobald ich am Boden auftraf.

Schritt für Schritt versuche ich dir zu erzählen, was geschehen ist. Ich kann nichts daran ändern, dass in meiner Erinnerung Lücken sind. Bestimmte Ereignisse weigern sich, wiederaufzutauchen, und so sehr ich mich darum bemühe, ich habe nicht die Kraft, sie auszugraben. In dem Moment, da ich auf dem Boden aufschlug, muss ich das Bewusstsein verloren haben, aber ich habe keine Erinnerung an Schmerz oder daran, wo ich hingefallen bin. Im Grunde kann ich mir nur der einen Tatsache sicher sein, dass ich nicht gestorben bin. Und diese Tatsache verblüfft mich noch heute. Mehr als zwei Jahre nach meinem Sturz aus diesem Fenster ist mir noch immer unbegreiflich, wie ich das überlebt habe.
    Ich stöhnte, als sie mich aufhoben, so hat man mir erzählt, aber danach blieb ich reglos, atmete kaum noch, gab kaum noch einen Ton von mir. Lange Zeit verging. Man hat mir nie gesagt, wie lange, aber ich schätze, es war mehr als ein Tag, vielleicht sogar drei oder vier. Als ich schließlich die Augen aufschlug, so hat man mir erzählt, glich dies eher einer Wiederauferstehung als einer Genesung, es war ein Emporsteigen aus dem reinen Nichts. Ich erinnere mich, dass ich eine Zimmerdecke über mir bemerkte und mich fragte, wie ich in ein Haus gekommen sei, aber gleich darauf durchbohrte mich ein Schmerz – vom Kopf durch die rechte Seite in meinen Bauch –, und der war so heftig, dass ich aufkeuchte. Ich lag in einem Bett, einem richtigen Bett mit Laken und Kopfkissen, aber ich konnte nichts anderes tun als dort liegen und winseln, während der Schmerz durch meinen Körper fuhr. Plötzlich erschien eine Frau in meinem Blickfeld und sah lächelnd zu mir herab. Sie war zwischen achtunddreißig und vierzig, hatte dunkel gewelltes Haar und große grüne Augen. Trotz meiner Gefühle in diesem Augenblick konnte ich sehen, dass sie schön war – vielleicht die schönste Frau, die ich seit meiner Ankunft in der Stadt gesehen hatte.
    «Es muss sehr weh tun», sagte sie.
    «Kein Grund für Sie zu lächeln», erwiderte ich. «Mir ist nicht nach Lächeln zumute.» Gott weiß, woher ich dieses Taktgefühl nahm, aber der Schmerz war so erbärmlich, dass ich das Erstbeste sagte, das mir in den Kopf kam. Die Frau ließ sich jedoch nicht irritieren und lächelte mich weiter tröstend an.
    «Freut mich, dass Sie am Leben sind», sagte sie.
    «Sie meinen, ich bin nicht tot? Das werden Sie mir beweisen müssen, bevor ich’s glaube.»
    «Sie haben einen Arm und ein paar Rippen gebrochen und eine schlimme Beule am Kopf. Fürs Erste sieht es jedoch so aus, als ob Sie am Leben wären. Ich denke, Ihre Ausdrucksweise ist dafür Beweis genug.»
    «Wer sind Sie eigentlich», sagte ich, ohne meine Aufsässigkeit aufgeben zu wollen. «Der barmherzige Engel?»
    «Ich bin Victoria Woburn. Und dies ist das Woburn House. Wir wollen den Menschen hier helfen.»
    «Schönen Frauen ist es verboten, Arzt zu sein. Das verstößt gegen die Regeln.»
    «Ich bin kein Arzt. Mein Vater war einer, aber er lebt nicht mehr. Er hat damals das Woburn House gegründet.»
    «Ich habe schon von diesem Haus gehört. Hab’s für ein Märchen gehalten.»
    «Soll vorkommen. Man weiß ja auch kaum, was man noch glauben darf.»
    «Haben Sie mich hierhergebracht?»
    «Nein, das war Mr. Frick. Mr. Frick und sein Enkel Willie. Jeden Mittwochnachmittag machen sie mit dem Wagen eine Runde. Nicht alle Leute, die Hilfe brauchen, können aus eigener Kraft hierherkommen, verstehen Sie, also fahren wir sie suchen. Es ist unser Ziel, auf diese Weise wöchentlich mindestens einen neuen Pflegling aufzunehmen.»
    «Sie meinen, die haben mich zufällig gefunden?»
    «Sie fuhren gerade vorbei, als Sie durch dieses Fenster gekracht kamen.»
    «Es war kein Selbstmordversuch», sagte ich abwehrend. «Kommen Sie bloß nicht auf komische Gedanken.»
    «Die Springer stürzen sich nicht aus Fenstern. Und wenn doch, pflegen sie sie vorher zu öffnen.»
    «Ich würde mich niemals umbringen», schimpfte ich weiter, um diesem Punkt Nachdruck zu verleihen, doch während ich diese Worte sprach, begann mir eine

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