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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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zum Hals zugeknöpft
und die Kapuzen über den Kopf gezogen. Der Regen peitschte ihnen ins Gesicht
und blendete ihnen die Augen.
    Sie hatten die halbe Strecke zum Dorf zurückgelegt, als sie dasselbe
Grollen hörten, das die Frauen so heftig erschreckt hatte. Die Wiese unterhalb
der Straße geriet plötzlich in Bewegung. Eine Schlammflut ergoss sich über das
Gras, große Brocken begannen zu rutschen. Gleich darauf hörten die beiden
Reiter klagende Stimmen, die in ihrer Verzweiflung sogar den tobenden Sturm
übertönten.
    Auf halber Höhe der Wiese hatte eine zerbrechliche Hütte aus Bambus
und Palmblättern gestanden, die jetzt von Wind und Wasser zerstört war. Ein
knorriger Strauch neben dem Eingang war umgerissen worden und hatte offensichtlich
jemand von den Bewohnern davor geschützt, von der nachfolgenden Schlammlawine
begraben zu werden, denn der Rest der Bewohner suchte schreiend und wehklagend
mit bloßen Händen in dem Dornengestrüpp herum. Ein etwa zweijähriges Kind, das
spuckte und brüllte, wurde hervorgezogen. Die Leute hatten sichtlich Hoffnung,
noch ein weiteres zu finden.
    Die beiden Männer hielten die Pferde an, banden sie fest und rannten
über die knöcheltief überflutete Wiese der Ruine zu. Erst bemerkte man sie gar
nicht, dann wurden sie mit viel Lärm angefleht, das Ihre zu tun. Sie warfen die
hinderlichen Kautschukmäntel ab. Lennert fuhr mit beiden bloßen Händen in die
Dornenranken, fühlte etwas – einen Arm, ein Bein! Im selben Augenblick schrie
auch Ameya auf.
    Â»Ein Kind, und es lebt noch!«
    Mit viel Mühe gelang es ihnen, das tief ins Dickicht verstrickte
kleine Geschöpf loszumachen, das verzweifelt nach Atem rang, während die Mutter
ihnen wehklagend an den Armen hing und mehr Schaden als Nutzen schaffte. Als
Ameya ihr das Kind reichte, machte sie ein Gesicht, als wollte sie mitsamt der
ganzen Familie ihm zu Füßen fallen.
    Aber dann geschah plötzlich etwas, das Lennert vollkommen
unbegreiflich war.
    Als Ameya das Kind aus dem Dornengestrüpp hob, war er an einem der
knorrigen Äste hängen geblieben, sodass sein klitschnasses Hemd hochgezogen und
ein Stück Fleisch zwischen Hüfte und Schulter entblößt wurde. Im selben
Augenblick wandelten sich die Dankesbezeugungen der Familie in
Schreckensschreie. Ihre Kleinkinder auf den Armen, die anderen an den Händen,
flohen sie schreiend und den Himmel um Hilfe anflehend vor dem Mann, der eben
ihrem Kind das Leben gerettet hatte. Eines der größeren Mädchen fiel hin, und
statt wieder aufzustehen, rollte sie sich zusammen und verbarg den Kopf in den
Händen, als fürchtete sie, von einem Raubtier angefallen zu werden.
    Ameya schrie etwas, das sie zutiefst erschreckte. Sie sprang auf und
floh hinter ihrer Familie her.
    Und jetzt rannte auch er selber, wenngleich in die andere Richtung,
rutschend im glitschigen Schlamm, das Haar triefend nass, die Kleider
aufgelöst. Lennert stürzte hinter ihm her, ohne recht zu wissen, warum, und
bekam ihn an der Hand zu fassen. Sie rutschten beide und fielen in die
strudelnde Schlammflut. Nur mit Mühe gelang es ihnen, sich an einer langen
Wurzel zu fangen und auf die Beine zu kommen. An den Baum gelehnt, standen sie
aneinander festgeklammert, um nicht wieder weggerissen zu werden.
    Lennert war vollkommen ratlos. »Was ist hier soeben geschehen?«, fragte er. »Die Leute sollten Ihnen Hände und Füße
küssen, dass Sie ihnen ihr Baby gerettet haben, stattdessen fliehen sie wie die
Verrückten vor Ihnen!«
    Ameyas Gesicht war bleich und bitter. »Sehen Sie mich gut an«, sagte
er. »Denn normalerweise bekommen auch Weiße diesen Teil meiner selbst nicht zu
sehen.« Dabei wandte er sich um und zog seine Kleidung so weit hoch, dass
Lennert einen Strang weißer, der Zeichnung eines Jaguars ähnlicher Flecken auf
der kakaobraunen Haut sah. »Das ist der Grund, warum ich niemals heiraten
werde, aus Angst, dass der Fluch sich noch weiter vererbt.«
    Â»Was heißt hier Fluch!«, rief der Arzt,
nachdem er einen scharfen Blick auf die Flecken geworfen hatte. »Das ist eine
Hautkrankheit. Erblich, ja, aber nicht ansteckend. Und vollkommen harmlos!
Warum machen Sie sich so viele Gedanken darum?«
    Jetzt enthüllte Ameya ihm sein Geheimnis. »Für die Einheimischen
bedeutet es, dass ich ein Jaguar bin. Tagsüber, wie jetzt, bin ich

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