Im Land der Mond-Orchidee
Sie
fragte, ob das ein javanischer Name sei. Ameya schüttelte den Kopf. Nein, sagte
er. Es sei ein Pseudonym: Lateinisch für »ich habe viel durchgemacht«. Der
Autor sei in Wirklichkeit ein junger Kolonialbeamter namens Eduard Douwes
Dekker gewesen, der 1855 nach Java geschickt worden war, um Missstände
aufzudecken. Er fand so viele, und sie waren so skandalös, dass er sein Amt
niederlegte, nach Holland zurückkehrte und den Roman schrieb, der 1860 in
Amsterdam erschien.
»Das meinte ich«, sagte Ameya, »als ich einmal zu Ihnen sagte, es
hätte auch in Holland Stimmen der Empörung über die gnadenlose Ausbeutung
unseres Landes gegeben. Das Buch hatte eine ungeheure Wirkung, es erschütterte
das Gewissen der Holländer nachhaltig. Sogar im Parlament wurde es diskutiert.
Freilich, Dekker machte sich auch so viele Feinde damit, dass er nach
Deutschland ins Exil gehen musste, wo er bald darauf starb. Lesen Sie es, ich
bin gespannt auf Ihre Meinung dazu.«
Neele, die noch niemals über ihre Meinung zu einem Roman befragt
worden war, nahm den Band dankend entgegen und versprach, ihn bei erster
Gelegenheit zu lesen.
Am Sonntagnachmittag, als die Arbeit ruhte, setzte sie sich auf die
Veranda und nahm das Buch in die Hände. Erst blätterte sie nur zögernd darin,
schmökerte da und dort, aber bald zog es sie in seinen Bann. Sie stellte mit
Entsetzen fest, dass der Begriff »skandalös« für die darin geschilderten
Zustände noch viel zu milde war. Dekker berichtete von Korruption, Erpressung,
Ausbeutung und Mord. Am heftigsten griff er eine MaÃnahme der Holländer an, die
eine der Hauptsäulen ihres Reichtums darstellte, nämlich das sogenannte
Kulturstelses , die zwangsweise Abgabe eines Fünftels
der Ernten in jedem Dorf. Jeder einzelne Dorfbewohner war zu einem Beitrag
verpflichtet, und damit sich keiner dieser aufgezwungenen Pflicht entzog, war
es bei Strafe verboten, sein Heimatdorf zu verlassen.
Dekker nahm kein Blatt vor den Mund. Aus eigener Anschauung
beschrieb er, wie aller Reichtum der Insel allein den Holländern zugutekam.
Kein Gulden wurde in das Wohl der Einheimischen investiert. Für die Vereinigte
Ostindische Kompanie waren sie nichts als Objekte der Ausbeutung, deren Status
sich von dem von Sklaven nur insofern unterschied, als sie kein persönlicher
Besitz irgendeines Pflanzers waren â und selbst das war ihnen nicht garantiert.
Wer sich gegen die Kolonialmacht verschwor oder auch nur in den Verdacht
geriet, ein Verschwörer zu sein, konnte mit dem Verkauf in die Sklaverei
bestraft werden.
Neele las das Buch in einem Zug durch. Es war seltsam, aber die
paradiesische Schönheit des Landes hatte ihr Herz längst nicht so tief berührt
wie dieser Bericht über seine Leiden. Lag es daran, dass sie ihr eigenes
Schicksal wiedererkannte? Jung, schön und lebensfroh war sie einem Herrn
unterworfen worden, dessen kaltes Herz weder ihre Bedürfnisse erkannte noch
ihre Liebe zu gewinnen suchte. Frieder war sie so gleichgültig gewesen wie den
holländischen Kolonialherren das eroberte Land.
Sie saà noch auf der Veranda, als schon die Dämmerung hereinbrach
und ihr die Buchstaben vor den Augen verschwammen. Erst als Lennert herauskam
und sie zum Abendessen rief, blickte sie auf. Ihre Augen schwammen in Tränen.
»Es ist entsetzlich, was da geschrieben steht!«,
rief sie, auf das Buch klopfend. »Entsetzlich. Ich kann verstehen, dass die
Leute in Holland schockiert waren, als sie lasen, welcher Unmenschlichkeit sie
ihren Reichtum verdanken.«
Lennert nickte. Ameya hatte ihm schon früher von dem Roman erzählt,
der eine solche Erschütterung ausgelöst hatte, dass sie das Ende der â damals
allerdings schon stark angeschlagenen â Alleinherrschaft der Vereinigten
Ostindischen Kompanie herbeiführte. »Ich fürchte nur«, sagte er, »es ist schon
zu spät, um noch guten Willen zu zeigen. Zwar haben sie in den letzten Jahren
eine Anzahl Monopole aufgegeben, sodass die Einheimischen auch wieder von den
Früchten ihrer Arbeit leben können, aber die Verbitterung sitzt sehr tief.«
Neele erinnerte sich, dass Schwester Florinda ihr etwas sehr
Ãhnliches gesagt hatte. Nach dreihundert Jahren gnadenloser Ausbeutung waren
die Javaner freundlichen Gesten gegenüber misstrauisch geworden. Sie glaubten
nicht mehr daran, dass die Holländer es ernst meinten. Und selbst
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