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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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hilfsbereit
und freundlich, aber in der Nacht werde ich meine andere Gestalt annehmen, an
die Betten der Kinder schleichen und ihnen mit meinen Zähnen die Kehle aufreißen.
Sie fürchten sich umso mehr vor mir, als ich sie gesehen habe und sie jetzt
wiedererkennen werde.«
    Â»Aber das ist absurder Aberglaube!« Lennert
war ehrlich aufgebracht. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber man scheint hier
doch sehr hinter der Zeit zurück zu sein, jedenfalls unter den Einheimischen!«
    Der Regen ließ nach, und Ameya wagte sich zurück zu seinem
zitternden Pferd, das an den Baum gebunden stand. Er tat, als sei er völlig
damit beschäftigt, das Tier über die glitschige Straße zu lenken, aber er sagte:
»Ich muss sehr viel Geschick aufwenden, damit es niemand außerhalb meiner
engsten Familie erfährt. Sie sehen, wie schnell so etwas geschehen kann. Unter
den Weißen fühle ich mich daher sicherer, obwohl ich mich auch vor ihren
Blicken sorgfältig in Acht nehme. Ihnen ist es weniger wichtig, weil Jaguare
für sie keine Bedeutung haben. Sie fürchten sich nicht vor ihnen, jedenfalls
nicht in einem magischen Sinn. Aber die Leute hier wären imstande, mich zu
töten, wenn die Furcht ihnen nicht die Hand lähmen würde. Deswegen bitte ich
Sie, sagen Sie niemandem weiter, was Sie heute gesehen haben! Ich hoffe, die
Bauern da werden den Mund halten; vielleicht haben sie mich ja auch gar nicht
wiedererkannt.« Dann fügte er niedergeschlagen hinzu:
»Ich habe vieles versucht; ich habe Ärzte konsultiert und auch Opfer gebracht –
ja, nennen Sie mich nur abergläubisch! Wenn man den Mut verliert, greift man
nach jedem Strohhalm. Aber weder die Ärzte noch die Suduks konnten mir helfen.
Haben Sie da andere Erkenntnisse?«
    Es klang hoffnungsvoll, aber Lennert musste ihm mitteilen, dass ihm
die Krankheit, die Vitiligo genannt wurde, nur vage bekannt war; irgendwann
hatte er während seines Studiums davon gehört, und da eigentlich auch nur, als
vor der Verwechslung mit Lepra gewarnt wurde, jener Krankheit, die in Indien
häufig vorkam. Heilung gab es seines Wissens keine.
    Ameya seufzte.

4
    D ass merkwürdige
Dinge um sie herum vorgingen, bemerkte Neele, als sie an einem der nächsten
Tage in den Garten ging, um die am weitesten überhängenden Zweige abzuhacken.
Als sie sich wieder dem Haus zuwandte, sah sie es: Auf die Holzwand neben der
Eingangstür hatte jemand etwas gezeichnet, aus dem sie nicht klug wurde. Es
sollte wohl der Umriss eines Menschen sein und war auch etwa so groß, aber es
war über und über fleckig. Stellte es eine Krankheit dar – Scharlach vielleicht
oder die Pocken? Oder war es überhaupt kein Mensch, sondern die an die Wand
gespannte Haut eines Jaguars? Dazu hätten die Flecken gepasst.
    Neele beeilte sich, wieder ins Innere des Hauses zu kommen, und rief
nach Paula. Gemeinsam betrachteten sie die sorgfältig ausgeführte Zeichnung des
Jaguarmannes – denn dafür hielt es Paula – und überlegten, ob es eine Drohung
sein sollte. Oder war es eine wohlgemeinte Warnung, dass ein solches Geschöpf
sie in Gefahr bringen könnte?
    Paula schlug vor, zu den Hagedorns zu gehen und sie zu fragen, aber
Neele lehnte dies ab. Sie war zu der Überzeugung gekommen, dass in der gesamten
deutschen Siedlung kaum jemand wirklich Bescheid wusste, was die Einheimischen
anging. Also holten sie zwei Eimer mit heißem Wasser und Seife und schrubbten
das Wandstück neben der Tür ab, bis kein Fingerbreit mehr von der Zeichnung
übriggeblieben war. Die Sonne begann eben, die nasse Mauer zu trocknen, als Lestari
durch den Garten kam. Paula eilte zu ihr hin und erzählte ihr auf der Stelle
von der Zeichnung, aber da verstand die alte Frau plötzlich kein Deutsch mehr;
sie murmelte nur vor sich hin und verschwand unter Kopfschütteln und abwehrenden
Handbewegungen in der Diele.
    Wenig später erhielt Neele ein Geschenk, das sie überraschte. Als
die beiden Herren sich nach einem ihrer sonntäglichen Besuche verabschiedeten,
griff Ameya in seine Tasche und zog ein in rotes Papier gebundenes Buch heraus,
das er Neele reichte. »Da Sie Interesse an unserem Schicksal gezeigt haben«,
sagte er, »dachte ich, Sie würden gerne einen Bericht aus erster Hand lesen.«
    Neele griff danach. Es war ein Roman mit dem Titel Max Havelaar und war geschrieben von einem »Multatuli«.

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