Im Land der Mond-Orchidee
Mutter
Fragen zu stellen, aber sie würde nie mehr erfahren, als dass die beiden
einander in der kurzen Zeit ihrer Gemeinsamkeit sehr geliebt hatten. Heiner war
tot, nun auch Elsie, und beide hatten ihr Geheimnis niemand anvertraut. Es sah
Tante Käthe ähnlich, dass sie es dennoch gewittert hatte.
Käthe! Was hatte Neele jetzt mit den Laudruns noch zu tun? Sie war
in keiner Weise mit ihnen verwandt. Freilich, sie hatte ihnen dafür zu danken,
dass sie ihr nach besten Kräften die Eltern ersetzt hatten, und sie nahm sich
vor, ihnen einen langen Brief zu schreiben, in dem sie sich für alles bedankte,
der aber gleichzeitig ein Abschiedsbrief sein sollte. Wahrscheinlich würden die
beiden alten Leute im Grunde recht erleichtert sein, dass sie sich nun nicht
mehr um fremde Sorgen kümmern mussten.
Wie seltsam, dass das Schicksal sie ausgerechnet in ihr Vaterland
geführt hatte! Es hatte ja keineswegs von Anfang an festgestanden, dass sie
nach Java reisen würden, sie hatten auch Australien und Amerika in Erwägung
gezogen. Nur die Tatsache, dass Pastor Ormus nach Java gegangen war, hatte sie
schlieÃlich bewogen, ihm zu folgen. Und nun war sie hier, an dem Ort, von dem
ihre Familie väterlicherseits stammte. Sie war ein Teil dieses Landes, von dem
sie bis zu ihrem neunzehnten Geburtstag nicht einmal gewusst hatte, dass es
existierte. Hätte sie ihren Vater gekannt, wie anders wäre die Reise auf der Meisje Mariaan verlaufen!
Sie dachte an ihren Vater und versuchte ihn sich vorzustellen, aber
immer sah sie Ameyas Gestalt und seine Züge vor sich. Wie würde ihr Geliebter
es aufnehmen, wenn sie ihm den Brief zeigte? Das hieà ja nun, dass zumindest
zum Teil dasselbe Blut in ihren Adern floss wie in den seinen. Neele hob den
Kopf und sah sich um. Alles, was sie sah, erschien ihr mit einem Mal anders.
Die Bäume, die lärmenden Affen und Vögel, die riesigen, stark duftenden Blumen,
all das war nicht mehr fremd, es war ebenso ein Teil ihres Erbes wie das Moor
in Norderbrake mit seinen schillernden Tümpeln und den streng riechenden
Torfgruben. Alles, was sie von sich selber gedacht und gefühlt hatte,
veränderte sich. Sie erschien sich selber als lebende Täuschung, da sie nach
auÃen hin so vollkommen weià war, so Zoll für Zoll eine Deutsche, dass niemand
jemals auf den Gedanken gekommen wäre, sie könnte einen dunkelhäutigen Vater
haben. Es wäre ihr jetzt lieber gewesen, man hätte ihr das gemischte Blut ein
wenig angesehen. Es hatte in Norderbrake Mädchen gegeben, die dunkelbraunes
oder schwarzes Haar hatten und in der Sonne braun wurden. Wäre sie eine von
diesen gewesen, so hätte sie es leichter gefunden, sich in die Gesellschaft
ihres Vaterlandes einzugliedern.
Sie war so versunken in den Brief gewesen, dass sie nicht bemerkt
hatte, wie eine Kutsche vor dem Gartentor anhielt und Ameya in Begleitung Dr. Bessemers den Weg heraufkam. Sie schreckte auf, als er sich über sie beugte,
eine Hand auf ihrer Schulter. »Neele? Was ist mit dir? Du siehst aus, als
hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Da.« Sie reichte ihm mit zitternder Hand die Papiere. »Lies das.«
Er setzte sich an ihre Seite und las mit gekrauster Stirn.
Ungläubiges Staunen breitete sich über sein Gesicht. Er lieà die Briefe sinken,
blickte Neele an und flüsterte: »Du ⦠Ich kann es nicht glauben. Bist du
sicher, dass deine Mutter wusste, was sie da schrieb?«
»Zweifellos. Der Brief ist eigentlich nur die letzte Bestätigung
dessen, was meine Tante und das Gerede der Dorfbewohner immer schon
behaupteten: dass ich nicht die leibliche Tochter des Mannes bin, der stets als
mein Vater galt.«
»Aber ein Javaner! Wie seltsam und wunderbar! Von allen Schiffen,
die in diesen Gewässern fuhren, zerschellte eines an der Küste, an dessen Bord
ein Kaufmann aus Java war!« Plötzlich blickte er sie
mit funkelnden Augen an. »Neele, ist dir klar, was das bedeutet? Du könntest
noch lebende Verwandte hier im Land haben! Lass uns im Hafenbüro nachfragen!
Sie haben die Passagierlisten aller Schiffe, wir können nachforschen, wo dein
Vater gelebt hat und ob es noch eine Familie gibt!«
Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Ãberwältigt von plötzlicher
Aufregung, sprang sie auf und lief ins Haus, um den Schwestern mitzuteilen,
dass sie in einer dringlichen Angelegenheit fortmüsste. Kaum nahm sie sich
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