Im Land der Mond-Orchidee
die
Zeit, ihren Hut aufzusetzen, sondern lief eilends hinaus zu der wartenden
Kutsche, und gleich darauf waren sie unterwegs in die Altstadt, zum Hafenbüro.
Wie Ameya gesagt hatte, bewahrte man dort in einem speziellen Raum
die Unterlagen über vermisste und verlorene Schiffe auf. Man wusste ja nie, ob
man nicht doch noch Nachricht über das Schicksal eines solchen Schiffes
erhielt, und genaue Unterlagen waren auch wichtig, wenn jemand einen
Bergeantrag für ein Wrack stellte.
Der Angestellte suchte aus einem mit dicken Kladden beladenen
Gestell eine heraus, die ziemlich weit unten lag, und begann den Namen des
Schiffes zu suchen. Es dauerte nicht lange, bis er aufblickte. »Das stimmt. Das
Segelschiff Hulda war mit einer Ladung Tropenholz und
anderen Produkten unterwegs nach Kopenhagen und ist dort nie angekommen. Wollen
Sie die Passagierliste?«
Neele setzte sich ans Pult und fuhr mit dem Finger die
Passagierliste hinunter. Einen Augenblick später stieà sie einen Schrei aus.
»Ameya, das muss er sein! Gajaraja, Kaufmann aus Batavia ⦠und hier steht
eine Adresse dabei! Meinst du, wir können dort vorsprechen?«
»Warte! Erstens kann man nicht so hineinplatzen, und zweitens kennen
wir doch die Umstände dort überhaupt nicht. Ãberlass es Dr. Bessemer, zunächst
für uns nachzuforschen. Wenn alles in Ordnung ist, kannst du einen Boten mit
einem Brief hinschicken und fragen, ob dir ein Besuch gestattet wird.«
Neele musste zugeben, dass er recht hatte. In ihrer Aufregung hatte
sie gar nicht daran gedacht, dass sie ja eine späte Todesnachricht überbrachte â und es für die Familie ihres Vaters auch einen Schock bedeuten würde, wenn
plötzlich ein weiÃes Mädchen auftauchte und ihnen diesen wilden, seltsamen
Brief einer verrückten Frau vorlegte.
Sie kamen überein, Dr. Bessemer zu bitten, er möge in dieser Sache
für sie intervenieren. Sobald sie ins Waisenhaus zurückgekehrt waren, baten sie
ihn um eine vertrauliche Unterredung. Neele legte ihm den letzten Brief ihrer
Mutter vor. »Ich zweifle nicht daran, dass das die Wahrheit ist, so seltsam es
auch klingt.«
Er las und war nicht weniger verblüfft als sie selbst und Ameya.
»Meine liebe Neele, wenn nicht Ihr dunkelhäutiges Kindchen wäre, hätte ich die
gröÃten Zweifel daran, ob dieser Brief nicht nur das irre Geschwätz einer kranken
Frau ist. Aber wie die Dinge liegen, glaube ich, dass Ihre arme Mutter die
Wahrheit schreibt. Was für ein erstaunlicher Zufall! Ihr verstorbener Pastor
hätte sicher gesagt, dass Gott Sie an der Hand in das Land geführt hat, aus dem
Sie herstammen, noch bevor Sie es wussten.« Er schrieb
sich die Adresse auf und las sie zwei Mal stirnrunzelnd durch. »Ich glaube, ich
weiÃ, wo das ist â eine Art Kräuterapotheke, die von zwei alten Damen betrieben
wird, vielleicht Schwestern Ihres Vaters, Neele. Ich werde mich gleich morgen
dort umsehen und ein wenig das Gespräch suchen. Wenn jemand spurlos verschwindet,
hört man nie auf, sich zu fragen, was geschehen ist, also werden sie wohl
zugänglich sein. Aber selbst wenn wir wissen, dass wir an der richtigen Adresse
sind, werden wir behutsam vorgehen müssen. Es ist ja doch ein sehr groÃer
Schreck. Wenn Sie nur ein bisschen weniger weià wären!«
Neele lachte, aber ihr war durchaus klar, dass Bessemer es ernst
meinte.
Er lächelte sie an, aber in seinem Gesicht lagen auch Zweifel und
ein gewisses Bedauern. »Wie fühlen Sie sich? Es macht Ihre Situation nicht
gerade einfacher, möchte ich sagen.«
»Schon möglich, aber es freut mich sehr, dass ich Ameya auch von
meiner Abstammung her viel näher bin, als ich dachte. Mein Vater muss ein Mann
von seiner Art gewesen sein, dass meine Mutter ihn so leidenschaftlich liebte.«
Ameya blickte zu Boden, um seine aufwallenden Gefühle zu verbergen,
aber beide bemerkten sein Erröten und seine tiefen Atemzüge. Was Neele gesagt
hatte, löste ein stürmisches Glücksgefühl in ihm aus.
Bessemer nickte nachdenklich. »Es ist gut, dass Sie innerlich mit
sich im Reinen sind, denn äuÃerlich werden Sie Schwierigkeiten bekommen. Sagen
Sie vorerst noch niemand etwas. Nicht, bevor ich mit den Schwestern Ihres
Vaters gesprochen habe. Aber wenn alles klar ist, müssen Sie zu Ihrer
Abstammung stehen. Sie bekommen andere Ausweispapiere, auf denen Sie als
Mestizin
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