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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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kein
Schreibpapier mehr zu beschaffen, Herr Doktor.«
    Der Arzt, der schon so viele tragische und absonderliche
Lebensgeschichten gehört hatte, nickte nur. »Wenn Sie einen Brief schreiben,
werden wir dafür sorgen, dass er ihr ausgehändigt wird. Jetzt grübeln Sie nicht
länger nach. Sie können die Vergangenheit nicht ändern.«
Er lächelte sie an. »Ruhen Sie sich aus.« Er kannte
das. Dieses Loslassen, dieses plötzliche Desinteresse an Manien, die bis dahin
den gesamten Horizont ausgefüllt hatten. Früher hatte man sie am Bett
festbinden müssen, damit sie sich nicht die Finger blutig schrieb, und jetzt
lagen Papier und Bleistifte vergessen in einem Winkel. Die Zeichen waren nur
allzu deutlich, dass sie nicht mehr lange unter den Sterblichen weilen würde.
    Er nahm sich ernstlich vor, ihren Wunsch zu erfüllen und den Brief,
der ihr so wichtig war, weiterzuleiten – an die einzige Adresse, die er kannte:
die der Familie Laudrun in Norderbrake.

3
    I n Norderbrake kam
der Postbote nur einmal in der Woche und wurde deshalb von allen Leuten, die
Aussicht auf Post hatten, mit besonderer Aufmerksamkeit erwartet. Als Tante
Käthe, die im Garten gearbeitet hatte, das Ponygespann auf der Landstraße sah,
lief sie eilig ins Haus, band die Schürze ab und wusch sich die Hände, um eventuelle
Briefe mit sauberen Händen entgegennehmen zu können. Der Postbote winkte ihr
bereits von Ferne zu, ein Zeichen, dass er etwas für sie hatte. Im Hof hielt er
sein Pferd an, stieg ab und entnahm den Postsäcken auf der Ladefläche einen
dicken braunen Brief.
    Käthe sah enttäuscht, dass der Brief von der Heilanstalt kam. Sie
hatte auf einen weiteren Brief von Neele gehofft, deren Niederkunft jetzt kurz
bevorstehen musste. Was ging sie das Gekritzel dieser merkwürdigen verrückten
Frau an, die einmal ihre Schwiegertochter gewesen war? Dennoch nahm sie den
Brief, sobald der Postbote sich verabschiedet hatte, mit ins Haus und schlitzte
das Kuvert auf.
    Dem Brief lag ein weiterer in einer männlichen Handschrift bei, der
den Stempel der Anstalt trug. Er besagte: »Leider ist das das letzte Schreiben,
das Sie jemals von Frau Laudrun erhalten werden. Gestern trat ein, was wir alle
schon lange erwarteten. Die Kugel wanderte in eine gefährliche Region des
Gehirns und zerstörte dort weiche Teile, sodass es zu einem jähen Hirnschlag
kam. Sie hat, so glauben wir, nicht gelitten, es ging alles sehr schnell. Wie
es in unserer Anstalt üblich ist, werden wir sie hier einsegnen und begraben,
es sei denn, Sie wünschen, andere Vorkehrungen zu treffen.«
    Nein, um Himmels willen, dachte Käthe. Nur das nicht! Sie schämte
sich ein wenig, dass die Nachricht von Elsies Tod sie mit einer solchen
Erleichterung erfüllte, aber es war wirklich nicht zu ertragen gewesen, vor
allem nicht in der Zeit, als sie angefangen hatte, diese Briefe zu schreiben.
Es wäre so viel besser gewesen, niemand hätte jemals mehr etwas von Elsie
gehört. Nun, jetzt war es fast vorbei. An ein Begräbnis in Norderbrake war natürlich
nicht zu denken, das hätte nur alles wieder aufgerührt, das ganze schreckliche
Geschwätz … Nach all den Jahren, die sie in der Irrenanstalt verbracht hatte,
konnte man sie gut dort begraben. Eigentlich hatte sie nie nach Norderbrake
gehört.
    Käthe erwog einen Augenblick lang, den Brief ungelesen ins Feuer zu
werfen und so zu tun, als hätte sie ihn niemals erhalten. Aber neugierig war
sie doch. Sie holte also ihren Kneifer und setzte sich auf die Veranda, um das
schwer lesbare Schriftstück zu entziffern.
    Plötzlich hob sie mit einem Ruck den Kopf, nahm die Brille ab und
schlug mit der flachen Hand auf den Brief, als wäre er ein hässliches Insekt,
das sie zerquetschen wollte. Es war also doch so gewesen, wie sie immer gedacht
hatte! Sie hatte es gespürt! Da hatten sie beide lügen können, so viel sie
wollten, Käthe hatte es gewittert, hatte das fremde Blut in ihrer Familie
gespürt. Heiner hatte natürlich seine Frau in Schutz genommen, der Dummkopf,
und das Kuckucksei als sein eigenes ausgegeben.
    Ein wenig brummig musste Käthe zugeben, dass es ihm sicher nicht
schwergefallen war, ein so niedliches Kind wie Neele anzunehmen. Das musste man
ihr lassen, wenn etwas Schlechtes in ihr steckte, dann hatte Käthe das niemals
zu sehen bekommen – und übrigens auch von niemand anderem

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