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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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sich sichtlich über den Ärger,
der sich in deren Gesicht spiegelte. Neele versuchte, ein wenig Verständnis für
sie aufzubringen. Es war sicher nicht angenehm, wenn man plötzlich auf den
zweiten Platz rückt.
    Die beiden Schwestern Gajarajas betrachteten Neele mit halb
argwöhnischen, halb hoffnungsvollen Blicken. Sie konnte die beiden verstehen.
Da wehte ihnen nach neunzehn Jahren der Wind eine Nichte ins Haus, die
obendrein noch erschreckend fremdartig aussah und als Legitimation nichts
weiter mitbrachte als einen seltsamen Brief. Sie saß still auf ihrem
gepolsterten Stuhl, das Kind im Schoß, während Dr. Bessemer und Ameya auf Sundanesisch
den Frauen darlegten, was sie über Neele wussten. Beide stellten eifrig Fragen,
wobei sie immer wieder auf den Brief deuteten, den die Ältere in der Hand
hielt. Zweifellos wollten sie Erklärungen für den verworrenen Stil, in dem das
Dokument abgefasst war.
    Neele lauschte noch dem Gespräch, von dem sie nichts verstand, als
eine der beiden Frauen plötzlich einen gicksenden Laut ausstieß, aufsprang und
die Hand nach Bethari ausstreckte. Die junge Mutter wollte sie instinktiv
zurückweisen, aber die Alte bedeutete ihr, sie habe nichts zu befürchten. Sie
zog behutsam das Häubchen des Kindes, das beim Wiegen verrutscht war, ganz zur
Seite. Dann schlug sie die Hände zusammen, rief ihre Schwester herbei und
geriet offenkundig in gewaltige Aufregung.
    Â»Was ist?«, rief Neele, die nicht wusste,
wie diese Erregung zu deuten war; ob sie Gutes oder Schlechtes bedeutete. »Was
sagen sie?«
    Â»Dass ihr Bruder genau solche kleinen Kerben im Ohr hatte und dass
man ihnen, als sie noch Kinder waren, erzählte, ein Leyak habe ihn eines Nachts
gebissen – ein unheimliches Wesen, das auf Friedhöfen haust.«
    Bethari war bei diesem Lärm aus ihrem Schlummer erwacht und begann
zu brüllen. Neele suchte sie unbeholfen zu beruhigen, aber man ließ ihr nicht
lange Zeit dazu. Die Ältere der beiden Damen nahm ihr das Kind ab, wiegte es und
gestattete ihrer Schwester nur widerwillig, es ebenfalls zu halten und ans Herz
zu drücken. Dr. Bessemer hatte recht gehabt: Nur wenige alte Damen konnten
einem Neugeborenen in der Familie widerstehen.
    Zuletzt verkündete der Amtmann das Ergebnis der langen Beratung.
Gajarajas Schwestern hegten keinen Zweifel mehr, dass ihre Geschichte stimmte,
und den Säugling wollten sie auf der Stelle haben – es gab Ammen, es gab
Kindermädchen … Was Neele anging, so redeten sie höflich um den heißen Brei
herum, aber es wurde klar, dass ihnen vor allem eines Sorgen machte: Sie
wollten keine so fremdartige Erscheinung im Haus haben. Sie waren sichtlich
erleichtert, als Neele ihnen mitteilen ließ, dass sie vorhatte, nach Australien
zu gehen. In dem Fall, erklärten sie, würden sie dafür sorgen, dass ihre Nichte
sich dort eine Existenz aufbauen konnte. Neele war natürlich klar, dass ihnen
daran gelegen war, sie in möglichst weiter Ferne unterzubringen, aber da sie
ihren Entschluss längst gefasst hatte, machte ihr das nichts aus. Sie dankte
lächelnd.
    Auf der Stelle wurde die Ziehtochter weggeschickt, eine Amme zu
holen. Bei dem allgemeinen Kinderreichtum war es nicht schwer, in nächster
Nachbarschaft eine Frau zu finden, die ein eigenes Kind stillte, und während
den Erwachsenen Kaffee und Arrak serviert wurden, nahm Bethari ihre Mahlzeit
aus einem üppigen kakaobraunen Busen zu sich. Neele empfand einen Hauch
schlechten Gewissens, dass sie es einer Fremden überließ, ihr Kind zu säugen,
aber ihr Verstand sagte ihr, dass sie das Richtige getan hatte. Einmal
abgesehen davon, dass die beiden Schwestern ihres Vaters ihr das Kind wohl auch
gar nicht mehr zurückgegeben hätten, selbst wenn sie es verlangt hätte, denn in
Java gehörte das Kind einer Frau der Familie als Ganzes, und über sein
Schicksal zu entscheiden hatten jene, die einen hohen Rang in der Familie
einnahmen.
    Als sie sich nach vielen Höflichkeiten verabschiedet hatten und den
Weg durch den duftenden, von Singvogelstimmen erfüllten Garten einschlugen,
sagte sie zu Ameya: »Ich habe meine Verwandten gefunden, aber sie wollen mich
nicht bei sich haben. Das Schicksal will, dass wir nach Australien gehen,
Ameya. Wollen wir morgen beim deutschen Konsul vorsprechen und ihn bitten, meine
Scheidung und die Heirat mit dir zu arrangieren?«
    Der junge Mann

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