Im Land der Mond-Orchidee
gehört. Das
Schlimmste, was sie je getan hatte, waren ein paar Kinderstreiche wie das heimliche
Eindringen in die Kirchengruft, bei dem Jürgen, dieser Lump, ihr geholfen
hatte.
Aber was sollte sie jetzt mit dem Brief tun? Ihn verbrennen und ein
für allemal das Schweigen des Todes über die ganze peinliche Geschichte
breiten? Andererseits wusste Neele schon, dass ihre Mutter noch lebte, hatte
vielleicht sogar versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, und wusste ohnehin
bereits, was Käthe so unsäglich erschien. Nein, die Wahrheit konnte ihr jetzt
nicht mehr schaden, auch wenn sie beschämend und schmerzlich war.
Sie schloss das Kuvert wieder, klebte die Klappe mit Leim zu und
ergänzte die Adresse auf: »Frau Neele Selmaker, Evangelisches Waisenhaus,
Weltevrede, Batavia, Java.«
Als sie damit fertig war, überkam sie ein Gefühl von Müdigkeit und
Zufriedenheit. Sie würde Merten bitten, dass er den Brief nach Bremerhaven
brachte, damit er möglichst bald in den Postraum eines der groÃen Ozeandampfer
gelangte. Und jetzt hatte sie noch etwas zu tun.
Den Schlüsselbund des Hauses in der Hand, schritt sie langsam den
niedrig gewölbten Gang entlang, der in den Ostflügel führte. Das Sonnenlicht
fiel durch den offenen Hintereingang, und dennoch war es hier dumpf und unfreundlich,
als strömte die Finsternis aus dem grünen Zimmer in den Gang hinaus. Käthe schob
den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Es knirschte rostig, nachdem die Tür
mehr als fünfzehn Jahre lang nicht geöffnet worden war, und Staub flockte unter
den Angeln hervor. Die kleine alte Frau musste mit der Schulter gegen das Türblatt
drücken, damit das von Staub und Rost verklebte
Schloss endlich nachgab und die Tür sich widerwillig öffnete.
Der Geruch von Mäusenestern stieg ihr in die Nase, Ãbelkeit erregend
stark in der schalen, stickigen Luft. Hinter den geschlossenen Fensterläden lag
das Zimmer in einem so tiefen Zwielicht, dass sie gerade nur die Umrisse der
Möbel erkennen konnte: das mächtige Bett, dessen Vorhänge bis an die Wand
zurückgeschoben waren, ein Tisch und ein paar Truhen. Aber was sie deutlich
sah, war der schwarze Fleck auf dem Teppich vor dem Bett, wo sie Elsie gefunden
hatten.
Käthe ging zu den Fenstern hinüber und öffnete mit groÃer Mühe erst
die staubigen Scheiben, dann die verkrusteten Läden. Sonnenlicht und frische
Luft stürzten wie ein Wasserfall in den Raum und verwandelten ihn von einem
Augenblick zum anderen.
Die Wirtschafterin hatte das ungewohnte Herumräumen gehört, denn sie
erschien oben an der Treppe und starrte mit kugelrunden Augen die geöffnete Tür
an. »Aber Frau Laudrun!«, rief sie aus. »Wieso machen
Sie denn das Geisterzimmer auf?«
»Ach was, Geisterzimmer!«, schnauzte Käthe
sie an. »Sehen Sie hier vielleicht einen Geist? Helfen Sie mir lieber, die
Vorhänge und den Teppich in den Hinterhof zu schaffen, Merten kann sie dann
verbrennen. Und wir rücken den Mäusen zu Leibe.«
Die Wirtschafterin, die zwar nicht aus dem Dorf stammte, aber die
Geschichte vom verfluchten grünen Zimmer bei erster Gelegenheit gehört hatte,
wusste natürlich, dass irgendetwas Entscheidendes passiert sein musste. Sie
wusste aber auch, dass Käthe sie nur scharf anreden würde, wenn sie versuchte,
ihr das Geheimnis zu entlocken.
Merten dagegen begriff sofort, was die plötzliche Ãffnung des
Zimmers zu bedeuten hatte. Er kam aus dem Dorf und sah schon von Weitem, dass
die Fensterläden offen standen. Als er ins Haus kam, fand er seine Frau damit
beschäftigt, heiÃes Seifenwasser über den Boden zu gieÃen und den nassen Staub
zusammenzufegen. Er blickte Käthe an, und nachdem er sich vergewissert hatte,
dass niemand ihnen zuhörte, fragte er: »Dann ist sie tot?«
»Ja. Ein Brief von der Anstalt kam. Und, Merten, wir hatten recht
mit allem, was wir gedacht hatten. Neele ist nicht das Kind unseres Heiner. Wir werden ihr den Brief schicken, wie er war, und
nun muss sie selber damit zurechtkommen.«
Wie die meisten Männer zeigte Merten an solchen Dingen wenig
Interesse. Er trollte sich hinaus in den Hinterhof, wo er sich daran machte,
die von Mäusen zerfressenen und abscheulich stinkenden Lumpen zu verbrennen,
und war froh, dass er sich über Elsie keine Gedanken mehr machen musste â und
über Neele auch nicht. Er fand, dass er
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