Im Land der Mond-Orchidee
mehr als seine Pflicht getan hatte, und
das stimmte ja vielleicht auch. Als GroÃonkel ein Kind aufzuziehen war nicht
einfach. Jetzt war sie erwachsen und weit weg am anderen Ende der Welt, und
wenn es ihr jemals einfallen sollte zurückzukommen, konnten sie ihr sagen: Du
bist ja gar nicht verwandt mit uns.
4
N eele war
überrascht, als die Schwester, die die Post entgegennahm, ihr ein Schreiben in
dem charakteristischen braunen Umschlag reichte. Es war adressiert an den
Moorhof in Norderbrake, aber sie erkannte Tante Käthes Schrift, die die Adresse
korrigiert hatte: Frau Neele Selmaker, Evangelisches Waisenhaus, Weltevrede,
Batavia, Java.
Sie setzte sich auf eine der hölzernen Bänke, zog das Kuvert hervor
und begann die Briefe zu lesen.
Elsie schrieb: »Kindchen, hätte ich gewusst, wo das alles enden
würde! Sie waren schlecht in unserem Dorf an der Küste, teuflisch schlecht und
böse. Es war ein schlimmer Ort, an dem viele Schiffe strandeten, und dann
stürmten die Dörfler hinaus und plünderten das Wrack. Gnade Gott den
Unglücklichen, die dem Elend des Schiffbruchs entkamen und dann feststellen mussten,
dass noch viel Schlimmeres sie erwartete!«
Wie schon die anderen Briefe, war auch dieser nur schwer zu lesen
mit seiner krakeligen, von Rand zu Rand reichenden Schrift, die sogar rundum
lief, wenn kein Platz mehr war. So musste Neele den Brief zum zweiten Mal durchlesen,
bis sie auf einen Absatz stieÃ, der ihr den Atem verschlug.
»Hätte ich damals nicht geschwiegen und ihn versteckt, so wäre auch
dein Vater mit Knüppeln erschlagen und zurück ins Meer geworfen worden ⦠Er
kam mit einem fremden Schiff, das mit viel edlem Holz, Fässern mit Arrak,
Kakao, Tee und Gewürzen beladen war. Er war so dunkel im Gesicht, dass ich ihn
erst nicht erkannte, als er mit seinem schwarzen Haar und seiner braunen Haut
halb bedeckt von nassem Sand dalag. Er streckte mir die Hand entgegen, und ich
bedeutete ihm zitternd, er müsse schweigen und mir folgen. Ich lebte abseits
des Dorfes allein mit meiner alten Mutter, die kaum noch etwas hörte und sah,
so blieb er unentdeckt. Du weiÃt, wie es weiterging, nicht wahr? Wie hätte ich
ihm widerstehen können? Ich überlegte, mit ihm gemeinsam wegzugehen, wir
machten viele Pläne, aber wir machten sie alle umsonst. Er starb nach einem
halben Jahr. Ich weià nicht, ob das schreckliche Erlebnis des Schiffsuntergangs
seine Kräfte zerstörte oder ob er die kalte, raue Luft nicht ertragen konnte.
Ich musste ihn allein begraben â wen hätte ich um Hilfe bitten können?«
Neele saà wie erstarrt. Wie hatte sie ihrer Mutter Unrecht getan,
als sie ihr vorgeworfen hatte, sich in Bremerhaven mit den Seeleuten
herumzutreiben! Ein Schiffbrüchiger war ihr Vater gewesen, und Elsie hatte ihm
das Leben gerettet, als sie ihn vor den Strandräubern verbarg.
»Was dich anging, so wusste ich nicht, was ich tun sollte. Wenn du
nun ein kakaobraunes Kind geworden wärst? Aber die Frage stellte sich gar
nicht. Du warst so hell, als hätte dein Vater nie Anteil an dir gehabt. Als
dann meine Mutter starb, lebte ich allein mit dir, bis eines Tages ein fremder
Seemann vorbeikam, der nach dem Weg fragte. Er verliebte sich auf der Stelle in
mich und ich mich in ihn, und es machte ihm nichts, dass du nicht seine Tochter
warst. So wurdest du Neele Laudrun. Erinnerst du dich noch an irgendetwas von
all diesen Dingen? Nein, wohl kaum, du warst so klein.«
Zuweilen war der Brief verworren formuliert, oder die Schrift war so
kritzelig, dass sie kaum zu lesen war, aber an einem bestand kein Zweifel: Ihr,
Neeles, Vater war ein Javaner gewesen â ein Kaufmann namens Gajaraja, der an
Bord eines holländischen Schiffes nach Kopenhagen unterwegs gewesen war und an
der deutschen Küste Schiffbruch erlitten hatte.
Neele saà lange Zeit reglos da und zerknitterte das eng beschriebene
braune Papier zwischen ihren Fingern.
Ihr Vater â ein Javaner!
Wie betäubt starrte sie ihre Hände an, die von der starken Sonne
gebräunt waren und doch nur die Farbe von Milchkaffee hatten. Keine Spur von
der kakaobraunen Haut, dem pechschwarzen Haar ihres Vaters war auf sie
übergegangen. Aber hatte sie etwas von seinem Wesen geerbt? Wenn ihre Mutter
ihn so innig geliebt hatte, dann musste er ein guter Mensch gewesen sein. War
sie ihm ähnlich? Wie gerne hätte sie jetzt Gelegenheit gehabt, ihrer
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