Im Land der Mond-Orchidee
betroffen auf. »Sie haben recht«, sagte er zu Neele. »Dieses Kind ist
ermordet worden. Jemand hat eine lange Nadel durch den Nacken in sein Gehirn
gestochen. Das ist eine Methode, die javanische Meuchelmörderinnen oft anwenden.«
»Jemand?«, schrie Neele. »Sie war es, diese
Schlange! Sehen Sie sie doch an!«
Nuri aber hatte sich von dem Schrecken, den die plötzliche Anklage
ihr eingejagt hatte, wieder erholt. Ihr schönes Gesicht war glatt und
ausdruckslos. Sie machte eine verächtlich abwehrende Geste und wandte sich halb
ab. Ihr Verhalten erbitterte Neele so, dass sie hinter der Theke hervorstürzte
und die junge Frau packen wollte, aber Dr. Bessemer hielt sie am Arm fest.
»Halten Sie ein, Frau Selmaker!«, sagte er
mit fester, autoritärer Stimme. »Das ist keine Privatangelegenheit mehr. Wir
müssen die Polizei verständigen, die eine Untersuchung vornehmen wird. Bleiben
Sie bitte bis zu ihrem Eintreffen hier. Ameya, wollen Sie Frau Selmaker in den
Garten begleiten? Es ist besser, sie wartet dort drauÃen.«
Ameya ergriff sanft ihre Hand. Sie lieà sich von ihm hinausführen in
den blühenden, von hellen Vogelstimmen erfüllten Garten, ohne den Gesang und
die leuchtenden Blumen wahrzunehmen. Was sie anging, hätte es finstere Nacht
sein können. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe, dass sie Bethari den
beiden Schwestern übergeben hatte. Wäre das Kind bei den Klosterfrauen
geblieben, es würde noch leben! Alles, so schien es ihr, war ihre Schuld. Ihr
Kind war gestorben, weil sie es nicht hatte behalten wollen â weil sie froh
gewesen war, dass es ihr jemand abnahm! Und so hatte sie Bethari ihrer Mörderin
ausgeliefert.
Sie sank auf der steinernen Bank unter einer Palme zusammen, zu der
Ameya sie führte, und brach in bittere Tränen aus. Er wartete geduldig, bis sie
sich ein wenig erholt hatte, hielt nur ihre Hand fest und streichelte zart ihre
Finger. Erst als ihr Schluchzen allmählich verebbte, sagte er mit leiser
Stimme: »Mach dir keine Vorwürfe.«
»Aber gerade das tue ich! Es war meine Schuld. Ich hätte sie ihnen
nicht überlassen dürfen! Bei den Klosterfrauen wäre sie noch am Leben.«
»Du hast das Richtige getan«, widersprach er sanft, aber bestimmt.
»Du hast das Kind zu seinen Verwandten gegeben, die bereit waren, es
standesgemäà aufzuziehen. Niemand konnte im Voraus wissen, dass es von Mörderhand
sterben würde.«
»Ich ahnte schon, dass Nuri die Kleine hasste. Allein, wie sie sie
angesehen hat! Und ich hätte daran denken müssen, dass das Kind sie von ihrem
Platz als Alleinerbin der beiden alten Damen verdrängte. Allein dieser Umstand
hätte mich schon davon abhalten müssen, es hierzulassen!«
Ameya schüttelte den Kopf. Mit gleichmäÃig sanfter, beruhigender
Stimme wies er sie darauf hin, dass niemand mit einem Mord hatte rechnen
können. Viele Menschen waren eifersüchtig, viele fühlten sich innerhalb der
Familie zurückgesetzt, wenn ein neues Kind geboren wurde, aber die wenigsten
griffen zu einem Mordinstrument. Im Ãbrigen entging niemand seinem Schicksal.
Wie es geschah, so hatte es geschehen sollen. Wenn es Bethari bestimmt gewesen
war, so jung zu sterben, hätte nichts, was Neele tat oder unterlieÃ, sie vor
diesem Schicksal bewahren können.
Neele seufzte. Sie dachte, dass er genauso redete wie Tante Käthe,
in deren Augen alles Gottes Wille war, was ihr an Gutem oder Schlechtem
widerfuhr. Sie selber konnte sich nicht so leicht freisprechen. Gewiss hatte
sie nicht ahnen können, dass Nuri zu einem Mord fähig war. Ihre Selbstvorwürfe
entsprangen der Tatsache, dass sie erleichtert gewesen war, das Kind loszusein â ein Gefühl, das eine gute Mutter niemals empfunden hätte.
Sie war eine schlechte Mutter gewesen, sie hatte das Kleine von allem Anfang an
nicht gewollt, und jetzt war es tot. Ihr schien, dass es sie mit seinen
glasigen Augen anblickte und sagte: War es das, was du gewollt hast? Bist du
nun zufrieden? Musste ich mein Leben verlieren, damit deines in Ruhe verlaufen
kann?
Obwohl sie schwieg, merkte Ameya, welche Verzweiflung sie
überwältigte, und er sprach ihr weiterhin Trost zu. So sanft, so geduldig, dass
die Finsternis sich allmählich ein wenig lichtete und Trauer an die Stelle von
Selbstvorwürfen trat.
Es dauerte nicht lange, bis vier holländische
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