Im Land der Mond-Orchidee
etwas Schlimmes geschehen.«
Erschrocken fragte sie den Boten, aber der Mann sprach nur
Sundanesisch und konnte ihr keine Auskunft erteilen. Also riss sie hastig die
Schürze ab, zog ihre Stiefel an, setzte den Hut auf und stieg hinter dem Mann
in den Sattel, ohne sich auch nur zu verabschieden und zu erklären, wohin sie
ritt. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Was mochte geschehen sein, dass Ameya
sie in solcher Eile zu ihren Tanten beorderte? War irgendetwas geschehen, das
ihre Stellung ins Zwielicht setzte? Wollten sie sie sehen, um ihr zu sagen,
dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten? Oder waren sie erkrankt? War
Bethari ein Unglück zugestoÃen? Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf im Kreis,
bis sie vor Anspannung Kopfschmerzen bekam.
Der Weg erschien ihr ungewöhnlich lang, bis sie endlich das Haus der
Schwestern erreichte. Sie sah, dass sie bereits erwartet wurde. Am Gartentor
stand die Ãltere. Sie war gekleidet und zurechtgemacht wie sonst auch, aber
etwas musste geschehen sein, das sie in eine gebeugte alte Frau verwandelt
hatte. Ihre Hände zitterten, und als Neele vom Pferd stieg, sah sie die rot
geweinten Augen der Frau.
»Was ist geschehen?«, rief sie in hellem
Schrecken. Die Frau, die ja kein Deutsch verstand, ergriff ihre Hand mit
eiskalten, knotigen Fingern und zog sie hinter sich her zum Haus, wobei sie
immer wieder in ein heftiges Schluchzen ausbrach. Drinnen angelangt, führte sie
ihre Nichte statt wie sonst in den Salon in die Apotheke.
Und jetzt sah Neele, was geschehen war. Auf der marmornen Theke, die
sonst als Ladentisch diente, lag Betharis winziger Körper, schrecklich stumm
und unbeweglich, auf einer Batikdecke. Rundum standen neben den Schwestern und
der Ziehtochter Nuri Dr. Bessemer, Ameya und ein fremder Mann mit einem
Arztkoffer.
Mit einem durchdringenden Schrei riss Neele das Kind an sich,
presste den bereits ausgekühlten Körper ans Herz. Schwer fiel der kleine Kopf
mit den geschlossenen Augen an ihre Schulter. »Was ist ihr zugestoÃen?«, schrie sie. »Wie konnte das geschehen?«
Die beiden alten Schwestern brachen in einen Wortschwall aus, den
Ameya zusammenfassend übersetzte. »Die Amme sagt, sie habe das Kind gefüttert
und in sein Bettchen gelegt, und als sie es wieder holen wollte, sei es tot
gewesen. Der Arzt meint, ein solcher plötzlicher Tod sei bei kleinen Kindern
nicht selten.«
Neele starrte ihn mit brennenden Augen an. Sie wusste, dass
Säuglinge häufig ohne bekannte Ursache in ihrem Bettchen starben. Aber es
erschien ihr unglaublich, dass das ihrem Kind widerfahren war. Als der Arzt
einen Schritt auf sie zu machte, um ihr den kleinen Leichnam aus den Armen zu
nehmen, wich sie vor ihm zurück und presste ihr Kind um so fester an sich â und
dabei fühlten ihre Fingerspitzen etwas Seltsames. Mitten in der winzigen
Nackengrube ertastete sie etwas, das sich wie ein Pickel anfühlte. Sie drehte
den schlaffen Körper um und sah, dass es kein Pickel war, sondern ein Loch,
nicht gröÃer als eines, das eine Hutnadel hinterlassen würde. Niemand hätte es
gesehen oder gespürt, wäre der Rand des Loches nicht durch die Hitze
aufgeschwollen, und selbst so war es ein Zufall, dass sie es überhaupt entdeckt
hatte. Sie spürte, wie ein eisiger Schauer sie überlief. Sie hob den Blick und
sah Nuris Augen mit einem Ausdruck von kaltem Triumph auf die ihren gerichtet.
»Du!«, stieà sie hervor. »Du hast es getan!«
Ameya fragte, wovon sie redete, und sie trat zurück an die
Marmortheke und legte den kleinen Leichnam bäuchlings auf das Tuch. »Sieh her!«, sagte sie mit einer Stimme, die leer und hohl klang. »Und
Sie, Herr Doktor, sehen Sie auch her! Mein Kind ist keinen plötzlichen Kindstod
gestorben. Es wurde ermordet â von dieser Frau dort!«
Sie wies mit ausgestreckter Hand auf Nuri.
Diese hatte nicht verstanden, was gesagt wurde, aber sie sah die
anklagend ausgestreckte Hand und sah, wie der Arzt sich über das Kind beugte,
eine Lupe aus seiner Tasche zog und den Nacken genau in Augenschein nahm. Ihre
dunklen Augen zogen sich zu schmalen, bösartigen Schlitzen zusammen. Sie rief
etwas auf Sundanesisch und deutete ihrerseits auf die Amme, die empört
aufsprang und sich gegen den Vorwurf â denn ein solcher war es zweifellos
gewesen â verwahrte.
Mittlerweile hatte der Arzt seine eilige Untersuchung beendet. Er
blickte
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