Im Land der Mond-Orchidee
Gesicht nach
oben gewandt, und als Neele sich über ihn beugte, starrte er sie aus groÃen, erstaunten
Augen an, ohne sie zu erkennen. Schon breitete der nahende Tod seinen grauen
Schleier über das Gesicht, dessen Züge erschlafften.
Neele konnte nicht schreien, sich nicht bewegen, keinen klaren
Gedanken fassen. Schweià rann ihr von der Stirn in die Augen, ohne dass sie ihn
wegwischte. Ihre Hände hatten sich zu Fäusten verkrampft.
Dann drang ein grausamer Laut an ihr Ohr: Gelächter. Zwei
Männerstimmen waren es, die lachten, und jetzt kamen die Mörder über die
Lichtung gerannt, beide vermummt in graue, lose flatternde Mäntel und Tuchmasken,
die ihre Gesichter verbargen. Die Masken schützten sie nur davor, von Fremden
erkannt zu werden, denn Neele wusste genau, wer der Mann war, der mit langen
Schritten herbeistürmte und sie, die immer noch regungslos vor Entsetzen
dastand, in seine Arme riss. Mit wilder Gewalt zerrte er ihr das Amulett, das
Ameya ihr geschenkt hatte, vom Hals und schleuderte es fort. »So, Neeleken«,
zischte seine Stimme an ihrem Ohr, »jetzt brauchst du dich nicht mehr zu
entscheiden zwischen dem Pfefferfresser und mir! Hier liegt sein Kadaver, küss
ihn, wenn du willst, aber zuvor wirst du mich küssen.«
Damit riss er sie zu Boden und warf sich über sie. Das Tuch der
Maske kratzte über ihr Gesicht, seine Lippen tauchten daraus auf und pressten
sich schmerzhaft auf die ihren. Auf dem Boden liegend, unter seinem Gewicht
ächzend, war sie hilflos. Ihre Hände griffen zuckend ins Gras. Neele wusste
kaum, was sie tat. Was war es, das ihre Rechte führte? Plötzlich stieà sie an
den Rücken des hingesunkenen Ameya, berührte die Schärpe, und wie aus eigenem
Willen, wie ein lebendiges Ding, glitt der Kris in ihre Hand. Warum der
gurgelnde Schrei? Woher kam plötzlich all das Blut, das hinter der Maske hervor
über ihr Gesicht spritzte? Sie begriff gar nicht, dass es ihre eigene Hand, ihr
eigener Arm waren, die sich hoben und mit einer einzigen wilden Bewegung die
scharfe Waffe treffsicher in den Hals des Angreifers stieÃen. Der schwere
Körper wälzte sich zuckend von ihr weg, fiel ins Gras, krümmte sich, während
ein nicht enden wollender Blutstrom aus seinem aufgeschlitzten Hals pulste.
Neele, die nicht einmal gewusst hätte, wie man einen Kris richtig hielt, hatte
mit der Gewandtheit eines erfahrenen Kriegers mit einem einzigen Stoà die
Halsschlagader getroffen.
Sie sprang auf, halb blind von dem Blut, das über ihr Gesicht
geströmt war, und vollkommen verwirrt. Die Welt zerfiel vor ihren Augen in ein
bunt flimmerndes Kaleidoskop, dessen Splitter keinen Sinn ergaben. Sie hörte
den zweiten Mann aufschreien. War es Entsetzen über den Tod seines Gefährten,
das aus seiner Stimme sprach, oder Entsetzen über den Anblick der wahnsinnigen
Frau, deren Augen ihn aus einer blutigen Fratze heraus anstarrten? Einen
Augenblick nur hing ihr Blick an ihm fest, dann rannte sie. Immer noch den Kris
umklammernd, floh sie in den Dschungel. Folgte nicht dem Pfad, sondern stürmte
blindlings durch das Zwielicht, hin und her zwischen den mächtigen Stämmen,
sich in ihrem Schatten verbergend wie die Tiere, die sie bei ihrem Spaziergang
aus den Augenwinkeln gesehen hatten. Der Mann folgte ihr mit schweren
gestiefelten Schritten, heiser brüllend vor Wut, aber sie lief so leicht, als
würde sie von einer unsichtbaren Kraft getragen, verbarg sich so geschickt,
dass sein Lärmen immer weiter zurückblieb und schlieÃlich nicht mehr zu hören
war.
Dennoch rannte sie weiter. In einem Tümpel am Wegrand wusch sie sich
das Blut, das ihre Augen verklebte, vom Gesicht, und schon war sie wieder auf
der Flucht, leichtfüÃig wie ein Reh. Sie konnte nicht denken, konnte nicht
fühlen, konnte nicht weinen. Alle ihre körperlichen und geistigen Kräfte waren
darauf gerichtet, so weit fort wie möglich durch das trügerische Zwielicht des
Dschungels zu fliehen â weit weg von der Lichtung, auf der ihr Glücksstern so jäh
und für immer erloschen war.
3
P höbus Bessemer
kehrte am späten Vormittag in Be gleitung von Dr. Anderlies, der sich von Neele
verabschieden wollte, aus der Stadt zurück. Die beiden waren bester Laune, sie
lachten und scherzten miteinander, bis sie die Höhe des Hügelrückens erreichten
und sahen, dass aus dem Blätterdach des Urwalds vor
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