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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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kein
einziges Mal in der Nacht, obwohl die Luft um sie herum erfüllt war von den
sonderbaren und unheimlichen Lauten wilder Tiere. Erst als der Morgen dämmerte,
kam sie allmählich zu sich.
    Sie spürte keinen Hunger, war aber sehr durstig, sodass sie den Tau
aus den Schalen der abgefallenen Blätter schlürfte. Dann machte sie sich wieder
auf den Weg. Ohne ein bestimmtes Ziel wanderte sie in einem fort durch den
Dschungel. Allmählich machten sich die Strahlen der höher steigenden Sonne
bemerkbar, die durch den grünen Schirm der Baumkronen drangen. Es wurde wärmer,
und die Gerüche verstärkten sich. Auch die Luft war anders als zuvor, schmeckte
nach Salz und war schwer von Feuchtigkeit. Sie musste sich allmählich dem Meer
an der nördlichen Küste Javas nähern.
    Dann veränderte sich der Wald um sie. Die Urwaldbäume machten Palmen
und Bananenbäumen Platz. Sie wanderte durch einen verwilderten Bananenhain, der
sich einen Hügel hinaufzog. Von der Kuppe des Hügels aus konnte sie sehen, dass
sie sich mitten im tiefsten Urwald befand: Wohin sie auch blickte, sah sie ein
Dach graugrüner Blätter. Nirgends stieg der Rauch von den Herden eines Kampong auf, kein anderer Laut als das Lärmen des
Dschungelvolks war zu vernehmen. Sie stapfte weiter. Zu Mittag stellte sie
fest, dass sie eine verlassene Plantage erreicht hatte. Da stand das Haus der
Pflanzer, groß und ehemals prächtig, aber von Wind und Wetter zernagt, umgeben
von den Überresten eines Gartens, der schon beinahe wieder zum Dschungel geworden
war. Beim Anblick einer menschlichen Behausung spürte Neele plötzlich ihre
Müdigkeit. Sie wollte nur noch unter ein Dach und in Ruhe ein paar Stunden schlafen,
nur so lange, bis die Mittagshitze vorüber war, ehe sie ihren einsamen Marsch
wiederaufnahm. Schwerfällig trottete sie durch das wüste Unkraut, das
stellenweise ihren Kopf überragte, und näherte sich der Vordertür des Hauses.
Dann blieb sie stehen. Die Tür wurde von einem zierlich geschnitzten, ehemals
reich vergoldeten Vordach vor dem Regen geschützt, und von diesem Vordach hingen
die zerschlissenen Überreste einer gelben Fahne. Sie stand vor einem alten
Pesthaus.
    Einen Augenblick zögerte sie, dann drückte sie die spaltbreit offen
stehende Tür auf. Es musste lange her sein, seit die Seuche hier geherrscht
hatte, und sie empfand so wenig Angst, wie sie sich im Dschungel vor den
Raubtieren gefürchtet hatte. Mit Ameyas Tod war die Welt für sie unwirklich
geworden, ein Kaleidoskop von Schatten, durch das sie hindurchschritt, ohne
daran Anteil zu nehmen.
    Die Tür öffnete sich in eine lange, sehr schmale Diele, von der in
der Art holländischer Häuser unmittelbar nach der Haustür eine steile Treppe
nach oben abging. Neele kümmerte sich nicht darum, was sich in den Räumen zu
ebener Erde befinden mochte. Von einem merkwürdigen inneren Drang beseelt,
stieg sie ohne Zögern die Treppe hinauf. Ein trübes Zwielicht herrschte im
Haus, dessen hölzerne Läden zum größten Teil geschlossen waren. Nur durch eine
rautenförmige Luke am Ende des Flurs, der das obere Stockwerk durchquerte,
drang der Mittagssonnenschein. Neele öffnete die erste Tür und stand vor einem
Kinderzimmer, in dem alles so geblieben war wie an dem Tag, an dem die Bewohner
des Hauses geflohen oder gestorben waren. Da stand das
Bett mit den staubschweren Seidengardinen, im Winkel ein Schaukelpferd, dessen
Glasaugen sie stumpf anglotzten, bunte Bilder an der Wand, die Szenen
holländischen Lebens zeigten. Sie schloss die Tür wieder und öffnete die
nächste. In diesem Zimmer hatte das Kindermädchen geschlafen, denn eine
Verbindungstür ging hinüber zum Kinderzimmer. Ein Bett war da, ein Sofa mit
blassgelb gestreiftem Bezug, ein Schrank. Ein scharfer, ranziger Geruch nach
Mäusen herrschte in dem engen Raum. Wahrscheinlich hatten sie in dem
durchlöcherten Sofa ihre zahlreichen Nester gebaut.
    Neele kehrte zurück auf den Flur und näherte sich der Treppe, die,
noch steiler und schmaler als ihr Gegenstück im Erdgeschoss, zu den Dachkammern
führte. Sie war jetzt so müde, dass sie kaum die Füße nachschleppen konnte,
aber etwas trieb sie, weiter hinaufzusteigen, als lauerte unten eine Gefahr auf
sie, der sie nur auf dem Dachboden entgehen konnte. Dieser war durch eine schmale
Pforte zugänglich und vollgestopft mit

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