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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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wenn sie dasaß und die Waffe in ihren kalten, zitternden Händen
hielt, fühlte sie sich getröstet, wie einen die Liebkosung eines lebendigen
Wesens im Schmerz tröstet. Sie brauchte ihn nur zu berühren – mit aller Vorsicht,
denn die geflammte Schneide war rasiermesserscharf –, und schon stiegen die
Erinnerungen an Ameya in ihr auf mit einer bildhaften Klarheit, dass sie jedes
Detail dieser Szenen vor sich sah. Sie sah aber nicht nur, sie fühlte auch, was
sie damals empfunden hatte, von der ersten zögernden Zuneigung bis zu dem
Augenblick, als es sie wie ein Blitz durchfuhr und sie wusste, dass sie zum
ersten Mal in ihrem Leben liebte und begehrte.
    Die Tage reihten sich mit der Monotonie glanzloser Perlen
aneinander. Neele stand morgens auf, ging in den Speisesaal frühstücken und
machte dann einen Spaziergang an Deck, bis der Steward ihre Kabine zurechtgemacht
hatte. Ihren kostbarsten Besitz – ihr Geld und den Dolch – trug sie dabei in
einer Tasche bei sich. Dann saß sie in Gedanken versunken da, bis es Zeit zum
Mittagessen war, und beschloss die Mahlzeit wiederum mit einem kurzen
Spaziergang. Nach dem Abendessen kehrte sie sofort in ihre Kabine zurück und
ging schlafen, wobei sie den Kris unter ihr Kopfkissen schob. Anfangs hatte sie
das nur getan, um ihn in ihrer Nähe zu wissen, aber dann merkte sie, dass sich
ihre Träume veränderten. Was ihr tagsüber an Erinnerungen durch den Kopf ging,
nahm in der Nacht eine farbige Gestalt an, als trete sie in ein anderes Leben
ein. Vom Einschlafen bis zum Erwachen durchlebte sie die gemeinsamen Stunden
mit ihrem Gatten. Am liebsten hätte sie immerzu geschlafen, so wundervoll und
tröstlich waren diese Träume.
    Sie musste sich zwingen, ein normales Leben zu führen, an den
Mahlzeiten teilzunehmen, sich auf Deck blicken zu lassen und ein paar höfliche
Worte mit ihren Mitreisenden zu wechseln. Mehr als eine knappe Bemerkung über
das Wetter oder ein ähnliches Thema war von ihr freilich nicht zu erlangen. Sie
entmutigte jeden, der sich ihr zu nähern versuchte, und sei es auch nur in
aller Unschuld aus der Langeweile der langen Reise heraus. Sie sei eben erst
von einer schweren Krankheit genesen und brauche Ruhe, entschuldigte sie sich,
und man nahm die Entschuldigung an. Der Typhus hatte ihr einen Gefallen getan,
als er ihre Haut grau und schuppig machte, ihre Lippen schrumpfen ließ und ihre
tief in die Höhlen gesunkenen Augen mit schwarzen Schatten umrahmte. Die schöne
Neele Selmaker hätte sehr viel mehr unerwünschtes Interesse auf sich gezogen
als die kränkelnde, unattraktive Frau Henderlein.
    Ein einziges Ereignis schreckte sie aus ihrer Gleichgültigkeit auf.
Sie lagen gerade vor Bombay, als Neele merkte, dass ihre Blutung ausgeblieben
war. Eine plötzliche, zitternde Hoffnung erfüllte sie. War es möglich, dass
ihre kurze, aber so leidenschaftliche eheliche Gemeinschaft mit Ameya Frucht
getragen hatte? Oder war die Ursache in ihrer schweren Erkrankung und den
darauf folgenden Schrecken zu suchen?
    Die Reisezeit verging so rasch, dass sie es selbst kaum glauben
konnte. An einem Julimorgen fuhr die Meisje Mariaan in Bremerhaven ein und entließ ihre Passagiere über die lange Landebrücke.
Neele stand mit ihren zwei Koffern an derselben Kaje, von der sie im
vergangenen September abgereist war. Sie war froh, dass es jetzt auch in
Deutschland heiß war. Sie hatte sich doch sehr an das Tropenklima gewöhnt und
hätte darunter gelitten, in der kalten Jahreszeit heimzukehren.
    Bevor sie sich auf den weiteren Weg machte, ging sie zur Deutschen
Bank und wechselte dort ihr Geld. Den größten Teil ließ sie auf ein Konto
legen, das auf den Namen Agathe Henderlein lief, nur eine geringe Menge nahm
sie mit sich.
    Der Gepäckträger brachte ihre Koffer zur Station des Bummelzuges,
der in der Nähe von Norderbrake hielt. Bald saß Neele in einem der vertrauten
Abteile mit den hölzernen Sitzbänken und rußverschmierten Fenstern. Sie blickte
wieder auf das geliebte Moor hinaus und spürte bei seinem Anblick, dass sie das
Richtige getan hatte, als sie nach Deutschland zurückgekehrt war. Das Moor breitete
sich in der Mittagssonne vor ihren Blicken aus, rot, braun und golden
schimmernd, und als sie das Zugfenster hinunterschob und sich hinauslehnte,
stieg ihr der vertraute säuerliche Sumpfgeruch in die Nase. Es gab Leute, die
sich nie an

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