Im Land der Mond-Orchidee
bemitleidet oder versucht,
ihr mit rüden Scherzen über den Schrecken hinwegzuhelfen. So standen sie da und
scharrten verlegen mit den nackten Zehen im Staub, ehe sie sich wieder ihren Beschäftigungen
zuwandten.
Neele verkroch sich in einem Winkel und legte den Kopf auf die Knie.
Ihr war übel vor Entsetzen. Acht Jahre in diesem Loch mit seinen schmutzigen,
vulgären Bewohnerinnen! Oder war dies nur ein Gefängnis für Untersuchungsgefangene,
und man würde sie bald in einen noch viel schlimmeren Kerker bringen? Wie hatte
der Richter so parteiisch sein können? Warum hatte er keine Anstrengungen
unternommen, Richard Hagedorn zu finden und zu einer Aussage zu zwingen? Aber
das alles war jetzt gleichgültig. Ihr Schicksal war besiegelt.
3
D ie Nacht kam
heran, und die Gefangenen wurden wieder in den Schlafsaal getrieben. Neele
hatte einige Stunden in einem dumpfen, von üblen Träumen zerquälten Schlaf
gelegen, als eine Berührung sie weckte. Im Dämmerlicht des langen Raumes, der
nur von den Laternen drauÃen im Hof erhellt wurde, sah sie eine massige Gestalt
neben ihrem Lager stehen. Es musste eine der Wärterinnen sein, denn der ersten
leichten Berührung folgte jetzt ein energischer Stoà mit sandalenbekleideten Zehen,
und eine Geste bedeutete ihr: Aufstehen und mitkommen!
Neele gehorchte, das Herz verkrampft vor Furcht. Was hatte diese
nächtliche Störung zu bedeuten? Sie musste an die Frau denken, die sich in der
vergangenen Nacht zu ihr auf die Matte gelegt und ihren Körper gestreichelt
hatte. Stand ihr jetzt das Gleiche mit der Wärterin bevor?
Sie kam nicht lange zum Nachdenken, denn sie wurde mit einem
energischen Griff aus dem Saal geführt, jedoch nicht in den Hof, in dem die
Häftlinge sich tagsüber aufhielten, sondern durch die Tür an der Stirnwand in
die Waschräume und durch eine weitere Tür in einen ummauerten Garten. Neele sah
nur undeutlich die gezackten Blätter hoher Palmen, die im Nachtwind winkten.
Dann klirrte ein Schlüssel in einem Schloss, eine Pforte in der Ziegelmauer
wurde geöffnet, und Neele bekam einen kräftigen Stoà in den Rücken. Gleich
darauf schloss sich die Tür hinter ihr, und die Wärterin verschwand.
Neele, die kaum begriff, was um sie herum vorging, schrie leise auf,
als aus dem Dunkel heraus eine Hand nach der ihren griff und sie rasch über die
StraÃe zog. Jetzt hatten ihre Augen sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt,
dass sie einen einspännigen geschlossenen Wagen ohne Laternen unter den Palmen
stehen sah. Der Schlag wurde geöffnet, man schob sie hinein, und gleich darauf
setzte sich das Gefährt in Bewegung.
Beinahe überzeugt, dass sie träumte, versuchte Neele, sich zu
orientieren. Aber sie war die einzige Person im Wagen, und obwohl ein
Glasfenster den Blick auf den Kutscher freigab, konnte sie nur eine
schattenhafte Gestalt erkennen, die sich auf dem Kutschbock duckte. Der
schreckliche Gedanke kam ihr, dass es Richard Hagedorn sein mochte, der sie aus
dem Gefängnis entführt hatte, um sich ihrer ganz zu bemächtigen. Einen Augenblick
lang erwog sie, den Schlag aufzureiÃen und aus dem Wagen zu springen, aber das
Gefährt bewegte sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit, und sie hätte sich gewiss
Arme und Beine gebrochen, hätte sie versucht hinauszuspringen. Also blieb sie
sitzen und erwartete ihr Schicksal.
Sie musste nicht lange warten. Der Wagen hielt, der Kutscher sprang
vom Bock und öffnete den Schlag. Von drauÃen drang eine Welle übler Gerüche
herein, die ihr verriet, dass sie sich in der Kota befand, wahrscheinlich in
der Nähe des Hafens.
»Neeleken!«, hörte sie eine vertraute
Stimme sagen. Lennert Anderlies war es, der jetzt ihre Hand ergriff und ihr
heraushalf. »Du musst schnell machen«, fuhr er flüsternd fort. »Zieh dich um â
hier sind Kleider und Stiefel. Setz den Hut auf.«
Während sie in aller Eile gehorchte, erklärte er: »Dr. Bessemer hat uns Papiere
besorgt. Wir reisen als Ehepaar Henderlein. Ich fahre mit dir auf dem Postboot
bis Anjer, dort warten wir auf die Meisje Mariaan ,
die Ende der Woche zurück nach Bremerhaven fährt. Ich gehe mit dir an Bord,
denn eine allein reisende Frau fällt auf. In Padang steige ich wieder aus, und
du reist nach Deutschland. Hast du alles verstanden?«
»Ja.« Sie war noch immer benommen. Geschah das alles wirklich,
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