Im Land der Mond-Orchidee
Leiche findet, soll er mir schreiben. Ich möchte so gerne
wenigstens daran denken können, dass er in einem ordentlichen Grab liegt.«
Der junge Arzt erwiderte ihren Händedruck und nickte. »Das werde ich
auf jeden Fall tun. Und jetzt schlaf, du hast viel mitgemacht. Ich möchte
nicht, dass du auf der Reise vor Erschöpfung krank wirst.«
Neele gehorchte dankbar, streckte sich auf dem Kojenbett aus und
fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf.
Vierter Teil
Traum und Wirklichkeit
Reise in die Vergangenheit
1
V on der Fahrt durch
die SundastraÃe und dem Aufent halt in einem Hotel in Anjer blieb Neele nicht
viel in Erinnerung. Noch ausgezehrt von der schweren Krankheit und erschöpft
von den Schrecknissen ihrer Verurteilung, hatte sie kaum Kraft genug, um für
die Mahlzeiten aufzustehen. Lennert kümmerte sich fürsorglich um sie. Ihm vor
allem hatte sie es zu verdanken, dass sie sich wieder halbwegs bei Kräften
fühlte, als an einem heiÃen Vormittag die Meisje Mariaan von Batavia kommend in Anjer einlief. Wie Lennert ihr sagte, hatten sie diesen
Umweg gewählt, weil man in Batavia viel eher auf die Frauen achten würde, die
an Bord eines nach Deutschland bestimmten Schiffes gehen wollten, als in Anjer.
Und tatsächlich kümmerte sich niemand um sie. Ohne Schwierigkeiten gelangte das
»Ehepaar Henderlein« an Bord. Dr. Bessemer hatte eine Kabine zweiter Klasse für
seinen Schützling gebucht, ein Entgegenkommen, für das Neele ihm überaus
dankbar war. In ihrem geschwächten Zustand hätte sie eine Reise dritter Klasse
als Tortur empfunden.
Die zweite Klasse war einfach ausgestattet, aber es gab gutes Essen
in einem sauberen Speisesaal, und vor allem â was Neele das Wichtigste war â
würde sie allein sein können, sobald Lennert in Padang von Bord gegangen war.
So dankbar sie ihm war, empfand sie seine Gegenwart doch zunehmend als Störung.
Sie wollte allein sein mit ihren Erinnerungen, mit dem Schatten des Mannes, den
sie als Einzigen leidenschaftlich geliebt hatte. Jede Stunde, die sie nicht in
Träumereien versunken verbringen konnte, erschien ihr vergeudet. Lennert
bemerkte ihre Stimmung wohl, und er verstand sie. Auf der kurzen Fahrt von
Anjer nach Padang war er sehr bemüht, sich ihr nicht aufzudrängen.
Sobald die avocadogrüne Küstenlinie von Sumatra aus dem Dunst
auftauchte, setzte der junge Arzt sich zu einem letzten Gespräch mit Neele
zusammen. »Ich habe dem Kapitän erzählt, dass ich in dringenden Geschäften
zurückkehren muss und du alleine vorausreisen wirst. Es hat ihn nicht
interessiert â was sehr beruhigend für uns ist. Neeleken«, sagte er und ergriff
ihre beiden Hände, »wir werden uns wahrscheinlich nie mehr wiedersehen. Ich war
schon auf dem Sprung nach Australien, als das schreckliche Ereignis mich auf
Java festgehalten hat. Jetzt werde ich meine Pläne verwirklichen und zu den
Goldgräbern reisen. Ich hätte dir von Herzen gewünscht, dass du auf Java dein
Glück findest â¦Â«
Sie blickte ihn mit feuchten Augen an. »Ich habe mein Glück dort
gefunden, aber es ist nur für eine sehr kurze Zeit bei mir geblieben.«
Er nickte stumm. Was hätte er auch sagen sollen? Hand in Hand saÃen
sie da, versunken in der Erinnerung an den geliebten Ehemann und den
hochgeschätzten Freund, bis die Dampfpfeife verkündete, dass das Schiff in den
Hafen von Padang einfuhr. Lennert erhob sich. »Machen wir den Abschied kurz,
Neeleken. Ich wünsche dir, dass du eines Tages wieder so lieben kannst und so
geliebt wirst, wie es mit Ameya war. Und nun leb wohl.«
Er umarmte sie brüderlich, ergriff seine Reisetasche und verlieà die
Kabine. Neele ging nicht hinaus, um ihm nachzusehen. Sie verschloss die Tür von
innen und kauerte sich auf dem Bett zusammen. Endlich konnte sie trauern.
Endlich konnte sie, so lange sie wollte, auf dem Bett sitzen, Ameyas Kris im
SchoÃ, und über diesem geheimnisvollen Artefakt träumen, dessen Seele so eng
mit der ihres Gatten verbunden gewesen war. Sie zweifelte längst nicht mehr
daran, dass der Kris mehr war als eine kostbare Waffe. Sie erinnerte sich
daran, wie er in ihre Hand geglitten war, als Jürgen sie bedrängte, und wie er
ihr den Weg zu der deutschen Kirche gewiesen hatte, als sie ihn als Orakel
gebraucht hatte. Ohne diesen Hinweis wäre sie in der Wildnis am Typhus
gestorben. Und
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