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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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der
steinernen Zisterne in einen Eimer. Langsam übergoss er seinen ganzen Körper
mit dem lauwarmen Wasser und trocknete sich mit dem rauen Tuch ab. Das Badezimmer
verfügte – ein ungewöhnlicher Luxus – über einen Spiegel, und Ameya trat vor
den Spiegel hin und betrachtete voll Bitterkeit sein Gesicht und seinen Körper.
Womit hatte er den Fluch verdient, der auf ihm lastete? Hatte seine Mutter die
Götter erzürnt, oder lastete die Schuld eines vergangenen Lebens auf ihm? Seine
Frömmigkeit war schattenhaft und konfus, eine unbestimmte Mischung aus den
Glaubensgrundsätzen des Islam, des Christentums und des Hinduismus, der sich
bei den Javanern großer Beliebtheit erfreute. Ihrem friedfertigen Wesen kam die
Vorstellung entgegen, dass man über religiöse Dinge nicht streiten sollte. Alle
Gottheiten hatten ihren Platz in der Verehrung der Gläubigen. Aber der
Hinduismus hatte auch eine dunkle Seite: den Glauben an ein unerbittliches
Karma. Sünden konnten nicht wie im Christentum gebeichtet und vergeben werden.
Sie hafteten wie Austern an einem Felsen an der Seele des Schuldigen und verfolgten
ihn über viele Leben hinweg. Da Ameya sich keiner persönlichen Schuld bewusst
war, die eine so grausame Strafe verlangte, war er halb überzeugt, er müsste in
einem früheren Leben ein böser Mensch gewesen sein, und das bedrückte ihn fast
noch mehr als die Last seines Makels.
    Mit einem müden Seufzer wandte er sich von seinem anklagenden
Spiegelbild ab und schlüpfte unter das Moskitonetz, das vorsorglich das Bett
umhüllte. Er löschte die Petroleumlampe und lag, die bunte Decke bis zur Brust
hochgezogen, auf dem Rücken, den Blick zur Decke gerichtet. Vor seinem inneren
Auge stand das Bild der schönen Deutschen. Nie hatte er eine Frau gesehen, die
ihn so auf den ersten Blick faszinierte. Eine Sehnsucht durchdrang ihn, die
Körper und Seele verkrampfte. Er wollte sie in die Arme nehmen, sie küssen, in
sie eindringen. Die ganze Glut eines jungen Mannes, der noch nie geliebt hatte,
erfüllte ihn. Und sie war allein, verlassen, sie brauchte jemand, der sie
liebte und sich um sie kümmerte! Aber wie konnte er sich ihr nähern? Würde sie
überhaupt wünschen, dass er ihr nahekam? Und selbst wenn es ihr recht war,
stand die Sitte des Landes, der Weißen wie der Einheimischen, gnadenlos
zwischen ihnen.
    Seine Gedanken drehten sich im Kreis, bis das beständige Plätschern
des Regens ihn allmählich einlullte und er in einen tiefen Schlaf voll
leidenschaftlicher Träume versank.

4
    N eele hatte
überlegt, ob sie nach Hause schreiben sollte, und sich letztendlich dafür
entschieden. Es würde einen ziemlichen Schock für Tante Käthe und Onkel Merten
bedeuten, wenn sie hörten, was Frieder ihr angetan hatte, dass sie schwanger
war und in welcher schwierigen Situation sie sich darüber hinaus befand. Und am
schlimmsten war es zweifellos für die beiden, dass sie ihr nicht zu Hilfe
kommen konnten. Sie wollte gar nicht daran denken, welche unendlichen Weiten
zwischen ihr und Norderbrake lagen.
    Sie hatte bei ihrem Einkauf nicht an Papier und Tinte gedacht, also
stieg sie hinauf zu den Schulzimmern im zweiten Stock in der Hoffnung, dort
noch irgendetwas zu finden. Leute, die aus einem verseuchten Haus fliehen,
legen sicher keinen großen Wert darauf, ausgerechnet die Tinte mitzunehmen.
    Eine breite Treppe mit einem schönen geschnitzten Handlauf führte
hinauf in den zweiten Stock. Neele hatte eine Petroleumlampe mitgenommen, um in
dem Gewitterdunkel sehen zu können, und bald wünschte sie, sie wäre bei hellem
Tageslicht hinaufgegangen. Das ständige Grollen und Krachen draußen, das
Aufleuchten der Blitze, die manchmal den gesamten Himmel mit einem Schlag
erhellten, und dazu der schwankende Schein der Petroleumlampe schufen eine
unheimliche Atmosphäre, die in den leeren Räumen noch schlimmer wurde. Sie fand
oben zwei Schlafsäle zu je fünfzehn Betten, dazu einen Waschraum und ein
Schulzimmer. Offenbar war immer ein Teil der Kinder im Freien oder in der
Kapelle unten unterrichtet worden, denn das Schulzimmer bot nur knapp fünfzehn
Kindern Sitzplätze.
    Wie sie erwartet hatte, waren die Tintenflaschen noch voll, es gab
auch Schreibfedern und Papier genug. Alles machte den Eindruck, als sei ein
großer Teil der Kinder sehr rasch krank geworden und verstorben, denn die Pulte
waren noch

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