Im Land der Mond-Orchidee
voll mit Schreibheften, Zeichnungen, Kreiden und Bleistiften. In
jedem Pult lag auÃerdem ein schmales Büchlein mit »Losungen« â Bibelworten für
jeden Tag des Jahres. Die Büchlein erweckten Erinnerungen an Norderbrake in
Neele. Dort hatte sie selbst in der Sonntagsschule anhand solcher Verse das
Lesen geübt. Im Geist hörte sie, wie eine ganze Schulklasse Wort für Wort die
frommen Verse herausblökte. Genauso war es zweifellos hier gewesen.
Neele war neugierig, was sich im Lehrerkatheder und in den Schränken
noch alles befinden mochte. Sie ging nach vorne â da fuhr drauÃen ein mächtiger
Blitz quer über den Himmel und erhellte das Schulzimmer mit seinem bleichen
elektrischen Schein. Gleichzeitig krachte der Donner. Einen Augenblick lang
schien es der erschrockenen jungen Frau, als sähe sie in diesem Schein in den
Schulbänken Kinder sitzen, alle in weiÃe Hemden gekleidet, die glänzenden
Blicke starr nach vorne gerichtet, wo sie mit ihrer Lampe in der Hand stand.
Nur eine Sekunde währte die Erscheinung, aber Neele begannen die Hände zu
zittern, und ihre Knie wurden weich. Sie erinnerte sich daran, wie sie kurz vor
ihrem Abschied aus Norderbrake ihr eigenes Gesicht so unheimlich verändert im
Spiegel gesehen hatte. Und jetzt erschienen ihr die verstorbenen Kinder!
Als sich ihre Augen von der Blendung durch den Blitz erholt hatten,
sah sie nichts mehr auÃer leeren Schulbänken in einem dunklen Raum.
Sie beeilte sich, wieder in den unteren, bewohnten Teil des Hauses
zu gelangen. Sie stellte die Petroleumlampe auf den Tisch in ihrem Zimmer und
machte sich daran, einen Brief zu verfassen, als Lennert durch die halb offene
Tür hereinspähte.
»Du schreibst nach Hause?«, fragte er.
»Ja. Ich denke, je früher Tante Käthe erfährt, was geschehen ist,
umso besser. Es wird zwar ein furchtbarer Schock für sie sein, aber ich kann
ihn ihr nicht ersparen. Wie sollte ich sie denn die ganze Zeit anlügen?«
Lennert stimmte ihr zu. Die Wahrheit zu sagen, auch wenn es die alte
Dame traf wie ein Schlag in den Magen, war unverzichtbar. Früher oder später
mussten sie es ja ohnehin tun.
Also setzte Neele sich hin, drehte die Lampe höher und begann zu
schreiben. Es fiel ihr schwer. Für gewöhnlich war sie recht gewandt, wenn es
darum ging, ihre Gedanken in Worte zu fassen, aber es ging um so peinliche und
erschreckende Neuigkeiten! Sie malte sich aus, wie Tante Käthe, die ja auf
jeden Fall sehnsüchtig auf einen Brief warten würde, dem Postboten den Brief
förmlich aus der Hand riss, dass Kuvert aufschlitzte und dann fassungslos auf
der Kaminbank in sich zusammensank, um den Brief mit einem »Da, lies!« an Onkel
Merten weiterzureichen. Wenn sie zurückschrieb, würde sie auf jeden Fall an allem
Neele die Schuld geben. Du hättest es wissen müssen! Du hättest daran denken
müssen! Du hättest ⦠ach, was auch immer.
Dann lächelte sie vor sich hin, denn sie stellte sich vor, wie Tante
Käthe reagieren würde, wenn sie ihr schriebe: Der einheimische Beamte, der Dr. Bessemer begleitet, ist ein sehr hübscher junger Mann. Er ist ein Wilder und
ein Heide, aber er könnte mir schon gefallen!
Nicht auszudenken!
Schwarze Magie
1
Z wei Wochen
vergingen, und nichts Besonderes ge schah. Allmählich gewöhnte Neele sich an
die ewig wiederkehrenden Reisgerichte, die dumpfe Hitze und die Geckos, die an
den Wänden entlangflitzten und jedem Besen entkamen. Jeden Tag waren die beiden
Frauen damit beschäftigt, für die Hochzeit der Hagedorns, die immer näher
rückte, zu sticken und zu nähen, bei schönem Wetter unter der Veranda, bei
Regen im Haus. Sie merkte, dass sie viel Neugier erregten, auch wenn man diese
Neugier höflich zu verbergen suchte. Kutscher, die ihre Karren vorbeilenkten,
schielten unter der Krempe ihres spitzen Strohhuts zur Seite und behielten die
Fremden, solange es ging, im Auge. Kinder in bunten Kleidern rannten herbei und
blieben stehen, wenn sie gerade die Krümmung der StraÃe erreicht hatten, an der
sie sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Junge Frauen und Männer, die
Lasten trugen, spähten vorsichtig hinüber.
Paula lieà das Handtuch, das sie bestickt hatte, auf den SchoÃ
sinken und lächelte. »Ich weià genau, was sie einander zuflüstern. Siehst du das weiÃe Haus da drüben? Das ist ein
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