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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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unter dem Kadaver. Das schwankende Lampenlicht fiel auf das breite,
flache Gesicht eines Jaguars. Kalte gelbe Augen funkelten die drei Menschen an.
Einen Augenblick nur, dann grollte die gefleckte Raubkatze warnend, packte mit
Zähnen und Pranken den Kadaver des Pferdes und zerrte ihn Schritt für Schritt
zwischen die hohen Gräser und Farne am Straßenrand.
    Neele stand reglos da und beobachtete, wie die Hufe des toten
Pferdes unter den Lianen verschwanden. Wenigstens war der Jaguar jetzt nicht in
der Stimmung für weitere Angriffe. Er musste sehr hungrig gewesen sein, dass er
auf offener Straße nach Beute gesucht hatte, und jetzt würde er erst einmal
fressen, bis er sich nicht mehr rühren konnte. Aber wo war der alte Pastor?
Hatte er den Angriff überlebt, oder lag er tot im Straßengraben?
    Als das letzte Rascheln und Knacken im Gebüsch verklungen war,
wagten die drei jungen Leute sich mit der Lampe auf die Straße hinaus. Das
Pflaster war mit Blut verschmiert, wo der Jaguar das Pferd niedergerissen hatte – und hier lag auch der Leichnam des alten Mannes, grausam zerfetzt von den
mächtigen Krallen. Neele starrte nieder auf den Kopf mit dem weißen Gesicht,
der für sich allein neben den übrigen Gliedern lag, und brach zusammen.

4
    S ie kam nur langsam
aus einem Dämmerland von Schmerzen und Schrecken zu sich. Sie ließ den Blick nach
allen Seiten gleiten und sah, dass sie in ihrem Bett lag. Ein starker Geruch
nach Essig herrschte im Zimmer. Paula stand neben ihrem Bett, rührte in einem
Glas und sagte: »Da, Neeleken, trink das, dann geht es dir besser.«
    Â»Was ist geschehen?«, fragte Neele, obwohl
sie sehr gut wusste, was geschehen war. Mit jedem Augenblick wurde ihre
Erinnerung klarer. Sie sah den Jaguar aus dem finsteren Gebüsch springen, hörte
das Krachen von Knochen und den jammervollen Todesschrei, als das Pferd unter
seinen Prankenhieben zusammenbrach, und dann sah sie im Licht der
Petroleumlampe den übel zugerichteten Leichnam des greisen Pastors auf der
Straße liegen.
    Paula rührte den Inhalt des Glases zu einer milchigen Flüssigkeit
und setzte ihn ihr an die Lippen. »Komm, trink. Du brauchst keine Angst mehr zu
haben. Sie haben den Jaguar erschossen. Die deutsche Gemeinschaft hat eine
Treibjagd veranstaltet und ihn dann in dem Tal hinter dem Festplatz
aufgestöbert. Der Wirt des Dorfkrugs hat ihn erlegt, und jetzt ist er auf die
Idee gekommen, die Haut gerben zu lassen und in seinem Hinterzimmer als Teppich
auszulegen! Ich werde nie imstande sein, dort hineinzugehen und mir dieses Vieh
anzusehen. Wenn ich mir denke, dass das Ganze praktisch genau vor unserer
Haustür passierte … Der unglückselige alte Mann!«
    Â»Wie lange ist das jetzt her?«
    Â»Zwei Tage. Du warst in einem ziemlich schlechten Zustand, aber
wenigstens hat der Jaguar dich nicht verletzt.« Sie
setzte sich an den Bettrand und streichelte Neeles Hand. »Die Jäger sagten, sie
können nicht verstehen, warum der Jaguar einen Reiter auf offener Straße
verfolgt hat. Das tun diese Tiere sonst nie. Sie lauern im Dschungel auf einem
Ast und springen herunter, wenn ein Beutetier – oder auch ein Mensch – unter
ihnen vorbeigeht.« Mit einem schiefen Lächeln fügte
sie hinzu: »Lestari ist der Meinung, dieser Jaguar sei der Suduk gewesen, der
so seine Rache an den verhassten Christen genommen habe. Nun, dann liegt der
Suduk demnächst als Teppich im Hinterzimmer des Dorfkrugs.«
    Paula lachte, aber Neele konnte in ihr Lachen nicht einstimmen. Die
grässliche Erinnerung war noch zu frisch, und sie erinnerte sich auch noch sehr
gut an das hasserfüllte Gesicht des Alten in seinem schmutzigen Umhang. Gewiss,
es war unmöglich, dass ein Mensch sich in ein Tier verwandelte … Wenigstens
heutzutage glaubte das niemand mehr. Aber wie lange war es her, dass man auch
in Deutschland noch an Werwölfe geglaubt hatte? Die Dienstboten in Norderbrake
hatten eine Menge Geschichten zu erzählen gehabt von bösen Menschen, die nachts
als Wölfe durchs Moor strichen und einsamen Wanderern an die Kehle fuhren.
    Paula tätschelte ihre Wange. »Komm, schlaf jetzt noch ein bisschen,
dann geht’s dir wieder gut.«
    Â»Ich glaube nicht, dass ich das je vergessen werde«, flüsterte
Neele.
    Â»Vergessen werden wir es alle nicht. Aber es ist nun einmal
geschehen, und wir müssen weiterleben. Seien wir froh,

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