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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Witt de
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scheußlichen Fratzen, die im Halbdunkel und beim flackernden Schein der
Kerzen Grimassen zu schneiden schienen. Menschen standen davor, die
Räucherstäbchen zwischen den gefalteten Händen hielten und sich dabei
verbeugten.
    Â»Um Himmels willen!«, flüsterte Neele Ameya
zu. »Sind das alles ihre Götzen?«
    Er nickte und beugte sich zu ihr, um nicht unnötig laut sprechen zu
müssen, und dabei spürte sie seine Berührung, zart wie der Flügelschlag eines
Schmetterlings. »Es gibt mehrere Religionen in China, aber sie haben alle
chinesischen Götter, die Buddhastatuen wie die primitiven taoistischen Götzen,
in einen Tempel zusammengestellt, damit jeder von ihnen am selben Ort beten
kann, ganz gleich, was er glaubt. Aber wir wollen hier nicht zu lange bleiben,
man kann unliebsames Aufsehen erregen.« Damit fasste
er Neeles Hand und führte sie aus dem Tempel hinaus, zurück zu der Kutsche.
Ihnen folgten Lennert und Paula mit dem Amtmann, der nicht von ihrer Seite
wich.
    Neele war völlig überwältigt von allem, was sie gesehen hatte, vor
allem von dem chinesischen Tempel. Nachdem sie sich mit Mühe und Not ein wenig
eingewöhnt hatte, überfiel sie nun wieder diese ganze Fremdartigkeit. Sie war
froh, dass sie mit dem Tempel nichts zu schaffen haben würde. Er hatte ihr Angst gemacht. Genauso, dachte sie, mussten die
schrecklichen Tempel der Kanaaniter ausgesehen haben, deren Götzendienst die
Kinder Israels immer wieder in die Falle gegangen waren.
    Sie wandte sich energisch von dem inneren Bild der goldenen Götzen
ab und konzentrierte sich auf ihren Begleiter. Immer wieder glitt ihr Blick
über seinen Körper hin, und jedes Mal erschien er ihr anziehender. Als Dr. Bessemer
warnte, dass der Nachmittag stetig weiter fortschreite und es allmählich
gefährlich werde, sich der krank machenden Luft in der Stadt auszusetzen, wurde
sie traurig bei dem Gedanken, dass sie ihn nicht so bald wiedersehen würde. Dr. Bessemer würde natürlich im Waisenhaus erscheinen, um seine Aufwartung zu machen,
aber ob Ameya dann mitkam?
    Inzwischen hatten sie die Kota hinter sich gelassen, und die Kutsche
rollte an einem breiten Kanal entlang, der von zwei braunen Ziegelmauern
eingefasst wurde. Grellbunt bemalte kleine Häuschen standen hier eines am
anderen im Schatten hoch gewachsener Palmen und blühender Tamarinden. Neele
erschrak heftig, denn plötzlich fuhr etwas, das sie für einen treibenden Ast gehalten
hatte, aus dem Wasser, und ein Krokodil sperrte seinen spitzzahnigen Rachen
auf. »Um Himmels willen, ein Krokodil!«, rief sie aus.
»Haben die Leute denn keine Angst, an diesen Kanälen entlangzulaufen? Es könnte
ja jederzeit an Land kommen und sie packen!«
    Dann querten sie den Kanal und fuhren zurück zu dem Serpentinenweg,
der zum Waisenhaus hinaufführte. Dr. Bessemer bot ihnen an, sie nach Hause zu
bringen, damit sie keinen Mietwagen nehmen müssten. In Zukunft würden sie keine
Hilfe mehr brauchen, denn wenn die Klosterfrauen einzogen, hatten sie gewiss
Pferd und Wagen. Der Amtmann kündigte an, dass er den Nonnen bald einen Besuch
abstatten würde. Es interessierte ihn, wie sie mit ihrer schweren Aufgabe
zurechtkamen. Dabei würde er natürlich auch »einen Blick zu seinen Landsleuten
hineinwerfen«, wie er es ausdrückte, und vielleicht konnte man sich ja
gemeinsam ein wenig von der Arbeit erholen und plaudern. Es gebe Orte, an denen
man sogar ein Picknick im englischen Stil machen könnte.
    Neele protestierte entsetzt. Sie dächte nicht daran, sagte sie, sich
irgendwo auf eine Wiese zu setzen, wo ein Jaguar sie aus dem Pflanzengeschlinge
am Waldrand heraus beobachten konnte, um sie dann anzuspringen und ihr den Kopf
abzureißen. Sie hätte schon Angst, allein und ungeschützt auf die Straße zu
gehen. Nie im Leben würde sie die schreckliche Szene vergessen, wie das
Raubtier den unglückseligen alten Mann zerfleischt hatte. Zwei Tage sei sie
krank gewesen, so tief hätte der Schock gesessen.
    Ameya schüttelte sanft verweisend den Kopf. »Sie hatten großes
Unglück, so etwas zu erleben, denn es ist wirklich eine Seltenheit, dass
dergleichen geschieht«, sagte er. »Dieser Jaguar muss krank gewesen sein, dass
er einen Mann auf der Straße anfiel, oder er war verrückt. Auch Tiere können
verrückt werden, wie tollwütige Hunde. Aber für

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