Im Land der Mond-Orchidee
hinter den Horizont sank, aber um diese Blüte breiteten sich
silberfarbene und stahlgraue Wolken. Ein feiner, süÃer Geruch hing in der
warmen Luft.
Als sie beim Abendessen an dem groÃen achteckigen Tisch saÃen, fragte
Schwester Florinda, wie es eigentlich gekommen sei, dass man ihnen so plötzlich
ein Haus zuweisen konnte, nachdem es lange Zeit keinen passenden Ort gegeben
hatte. Wieso es überhaupt leer stünde? Es sei ein schönes, offensichtlich erst
kürzlich erbautes Haus mit einem eigenen Brunnen und in guter Lage an der
StraÃe, das sei ein Schatz, den man nicht oft finde. Die drei jungen Deutschen
erzählten ihnen von der Typhusepidemie, dem Fluch des Suduk und dem Tod des
Pastors, und dass die Einheimischen das Haus für ein Spukhaus hielten.
»Ein Suduk, so so!«, kommentierte Schwester Florinda. »Ich glaube
zwar nicht, dass der Bursche die Macht hatte, eine Typhusepidemie auszulösen,
aber den Willen dazu hatte er ganz gewiss. Es gibt böse Kerle unter diesen
einheimischen Schamanen. Sie und die islamischen Mullahs sind die Einzigen, vor
denen man sich als Christ hier in Acht nehmen muss. Die übrigen Javaner sind
recht tolerant â eine Folge des hinduistischen Einflusses. Wenn Hindus auf
einen neuen Gott stoÃen, eröffnen sie einfach einen weiteren Schrein in ihrem
Pantheon, und schon ist alles in Ordnung.«
»Das finden Sie aber sicher nicht richtig, oder?«,
fragte Lennert. »Ich meine, Sie als Klosterfrau und Missionarin.«
Schwester Florinda zuckte die Achseln. »Wir laufen hier nicht mit
einem groÃen Schild durch die StraÃen, auf dem steht: Bekehrt euch alle zum
Christentum! Wir haben unsere Kinder zu versorgen und sind froh, wenn wir denen
vermitteln können, dass wir eine Religion der Liebe vertreten. Es gibt zu viele
Christen hier, die das nicht vermitteln können und auch gar nicht die Absicht
haben. Solange die Vereinigte Ostindische Kompanie im Land herrschte, haben die
Holländer keinen Gulden für die Erziehung, die Bildung oder Bekehrung der
Einheimischen ausgegeben, sondern immer nur genommen. Seit die Kompanie nicht
mehr das Sagen hat, ist es viel besser geworden, aber ich fürchte, die Reue
kommt zu spät. Zu viele Javaner sind verbittert und hören bereitwillig auf die
Mullahs und islamischen Propheten, die sie aufstacheln, sich mit Gewalt vom
Joch der Unterdrücker zu befreien.«
Der einheimische Islam, erzählte sie den interessiert Lauschenden,
sei mit dem streng orthodoxen Islam nicht zu vergleichen. Mohammed, sagte sie
mit einem Lächeln, würde den von ihm gestifteten Glauben wohl nicht wiederkennen,
wäre er jemals nach Java gekommen. Alle möglichen Einflüsse, hinduistische und
animistische, hätten die ursprünglich strenge Religion überwuchert, sodass die
heimischen Muslime sich anderen Religionen gegenüber friedfertig zeigten. Immer
öfter kamen jedoch ausländische Mullahs ins Land, die mit diesem synkretistischen
Islam höchst unzufrieden waren und ihre Religion in alter Strenge und Klarheit
wiederhergestellt sehen wollten. Sie fanden Zulauf von den Einheimischen, die
nach einer neuen Identität suchten, nach einem Banner, unter dem sie sich zum
Kampf gegen die Ungläubigen versammeln konnten.
Neele lauschte mit Interesse. Schwester Florinda war offenbar eine
kluge Frau, und das gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Am nächsten Tag begann für Neele und Paula das Alltagsleben unter
Schwester Florindas Aufsicht. Da die Klosterfrauen sich völlig der
medizinischen Versorgung und dem Unterricht der Kinder widmen wollten, blieben
ihnen die einfachen häuslichen Aufgaben wie das Waschen, Kochen und Putzen.
Wenn die Kinder keinen Unterricht hatten, wurden sie in ihren
kleinen Rollwagen vors Gartentor hinausgefahren und konnten von dort aus die
StraÃe beobachten, was ihnen viel Vergnügen machte, da immer irgendetwas los
war. Viele der vorüberkommenden Einheimischen glaubten, dass die Kinder dort
saÃen, um zu betteln, und reichten ihnen mit freundlichem Lächeln Früchte oder
einen gebackenen Keks. Die Javaner gaben gerne, erklärte Schwester Florinda den
beiden jungen Frauen. Teils aus angeborener Freundlichkeit, teils aber auch,
weil man nie wusste, ob sich in einem so harmlos aussehenden Kind nicht doch
irgendein unheimliches Wesen verbarg, dessen Ãrger man besser nicht auf sich
zog.
Neele dachte bei
Weitere Kostenlose Bücher