Im Land der Orangenbluten
Fackeln in den Händen angerannt und versuchten, die aufgebrachten Viecher wieder einzufangen. Durch den Tumult zwischen den Gebäuden und den lauten Rufen vermutlich gestört, erschien auch Pieter alsbald mit zugeknöpfter Hose in der Vordertür des Gästehauses und brüllte einige Anweisungen. Das Mädchen konnte Julie nicht entdecken, hoffte aber, dass es sich in Sicherheit hatte bringen können.
Erschöpft schlich sie sich auf ihr Zimmer. Es war wohl besser, wenn niemand mitbekam, dass sie draußen gewesen war. Sie empfand tiefe Abscheu vor Pieter: Jetzt, wo Martina unpässlich war, holte er sich bei den kleinen Sklavenmädchen, was er wollte. Julie wurde schlecht bei dem Gedanken. Welche Mädchen? Und wie oft hatten sie das wohl schon ertragen müssen? Wie konnte ein erwachsener Mann so etwas tun? Sie würde etwas unternehmen müssen ... nur was?
Kapitel 2
Die Plantage Bel Avenier lag viel weiter von der Stadt entfernt, als Erika sich hatte träumen lassen. Ein paar Bootsstunden waren in diesem Land gleichbedeutend mit einer großen Distanz zur Zivilisation. Erikas erste Wochen im Hause der van Drags erschienen ihr wie ein heilloses Durcheinander. War Ernst van Drag aus dem Haus, was jeden Morgen in aller Frühe geschah, wenn er sich zur Beaufsichtigung der Arbeiter in die Holzgründe begab, nahm das Chaos seinen Lauf. Die durchweg unerzogene und aufmüpfige Kinderschar war kaum zu bändigen, weder von den Haussklavinnen, die sich redlich bemühten, aber von den lieben Kleinen kaum ernst genommen wurden, noch von Frieda van Drag, die sich nur in ihren eigenen, für die Kinder verbotenen Räumen aufzuhalten schien. Auch vor Erika hatten die Kinder der Familie kaum Respekt – zumal sie schnell herausfanden, dass Erika abgelenkt war, wenn sie den kleinen Reiner zum Weinen brachten und sie entsprechend schalten und walten konnten wie sie wollten. In diesem Haus gab es nur Zucht und Ordnung, wenn der Hausherr anwesend war. Dann verstummten die Kinder unter dem strengen Blick des hochgewachsenen Mannes, und wenigstens die Nachmittagsstunden verliefen halbwegs gesittet.
Abends war Erika wie erschlagen. Die viele Aufregung um die Kinder, deren Bändigung und Beaufsichtigung ja eigentlich ihre Aufgabe war, und das ständige Einreden auf Reiner, der durch die Unruhe um ihn herum zunehmend quengeliger wurde, zehrten an Erikas Nerven. Sie wusste nicht, wie sie der Sache Herr werden konnte und zweifelte insgeheim schon, ob es eine gute Idee gewesen war, die Stellung auf Bel Avenier anzunehmen. Geert, Harm, Jan, Ruthger und die Mädchen Edith und Anka waren die sechs Kinder, die noch im Hause lebten. Die beiden ältesten Söhne Anton und Frits lebten bereits in der Stadt und besuchten dort die Schule. Die beiden Mädchen waren verschüchterte Geschöpfe, die, überwiegend in sich gekehrt, mit ihren Püppchen spielten oder am Rockzipfel ihrer schwarzen Amme hingen, wohingegen die vier Jungen im Alter zwischen sechs und zehn schon wahrlich kleine Tyrannen waren. Wenn sie nicht gerade ihre Schwestern ärgerten, übten sie sich im Herumkommandieren der Haussklaven, die, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, den kleinen Masras gehorchten, waren deren Befehle auch noch so kindisch oder irrsinnig. Erika schauderte jedes Mal, wenn sie feststellte, wie wenig Achtung die Kinder diesen Menschen entgegenbrachten. Sie behandelten und hielten sich die Haussklaven wie Tanzäffchen. Im Hause van Drag war es Sitte, dass jedes Kind mit fünf Jahren einen eigenen kleinen Sklaven geschenkt bekam. Dieses Sklavenkind war zwei bis drei Jahre älter als sein neuer Herr und hatte ihm willenlos zu Diensten zu sein. Nur so, schwadronierte der Hausherr Ernst van Drag, als Erika ihn auf diese Sitte ansprach, lernten die Kinder den richtigen Umgang mit Untergebenen und zögen sich selbst einen verlässlichen und ergebenen Hausdiener heran.
Erika überlegte immer wieder, wie sie die Kinderschar unter Kontrolle bringen konnte. Der Zufall half ihr schließlich auf die Sprünge.
Eines Vormittags, als Erika ihrer Aufgabe als Hauslehrerin nachkommen wollte und sich mühte, die sechs Kinder an den Tisch zu bekommen, erwischte sie Harm, wie er im Nebenzimmer den kleinen Reiner piesackte, vermutlich mit dem Hintergedanken, dem lästigen Unterricht entkommen zu können, wenn Erikas Kind schrie. Erika, die gerade noch sah, wie der Achtjährige den kleinen Reiner so grob an den Ärmchen zog, dass dem Kleinkind vor Schmerz die Luft wegblieb, sah für einen
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