Im Land der Orangenbluten
konnte sie sich keinen Reim darauf machen, wer dort jetzt noch etwas zu schaffen hatte. Sie stand auf und huschte im Schutze der Büsche auf das Gästehaus zu. Ein kleiner Trampelpfad der Gärtner führte zwischen Hauswand und Hecken um das Gebäude. Julie hielt an und lugte vorsichtig um die Ecke. Sie sah eine große, männliche Gestalt auf der Rückseite des Gebäudes stehen, den Türflügel mit einer Hand geöffnet haltend. Mit der anderen hielt der Mann den Arm einer deutlich kleineren Person umklammert – in dem Versuch, sie durch die Tür zu zerren.
Julie überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Brauchte das Mädchen Hilfe? Es war dunkel, Amru und die Haussklaven waren bereits im Dorf, und Pieter, der würde ihr wohl kaum zur Unterstützung eilen. Julie beobachtete, wie der Mann das Mädchen in das Gästehaus zwang. Augenblicklich wich ihr leiser Protest. Kurz darauf wurde die Tür wieder aufgestoßen, und die Gestalt des Mannes verschwand im Dunkeln Richtung Sklavendorf. Dann hörte Julie über ihrem Kopf ein leises Poltern und das Klacken einer Tür im Haus. Sie sah nach oben und vernahm aus einem der Räume einen schwachen Lichtschein.
Sie tastete sich vorsichtig an der Wand entlang. Nahe bei ihr standen einige Fässer und Kisten. Wenn es ihr gelänge, dort hinaufzusteigen, könnte sie vielleicht ... Kurz zögerte sie, aber die Neugier überwog. Vielleicht war es eines der Hausmädchen, das im Gästehaus irgendetwas angestellt hatte? Vielleicht hatte Amru den Mann angewiesen, das Mädchen dahingehend zu tadeln? Sie raffte ihren Rock und stieg vorsichtig auf eine Kiste. Während sie sich leicht nach vorn beugte, konnte sie über den Rand des Fensters in das Zimmer sehen. Es brannte nur eine schwache Lampe auf einem kleinen Tisch. Julies Herz setzte einen Schlag aus, als sich plötzlich eine Person am Fenster vorbeibewegte. Pieter. Julie zuckte zurück. Hatte er sie gesehen?
»Zieh dich aus!«, hörte sie ihn jetzt befehlen.
Er war offensichtlich nicht allein im Raum. Dann vernahm Julie das leise Wimmern des Mädchens. In ihrer Brust zog sich eine kalte Faust zusammen. Sie beugte sich wieder vor und lugte über den Rand des Fensters. Und konnte nicht glauben, was sie jetzt sah: Pieter stand, nur mit einer Hose bekleidet, im Raum. Von dem Mädchen sah Julie nur eine Schulter und einen Arm und kurz, als sich die Kleine wie geheißen entkleidete, eine kleine, knospenhafte Brust. Julie wurde schlagartig gewahr, dass das Mädchen noch nicht alt sein konnte. Sie versuchte einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, drohte aber von den Kisten zu kippen. Julie sah nur aus dem Augenwinkel das Aufblitzen einer grünlichen Halskette, bevor sie sich gerade noch an das raue Holz der Wand klammern konnte, um nicht zu stürzen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Dennoch zwang sie sich, ihre Position zu stabilisieren und erneut durch das Fenster zu schauen. Das Bild brannte sich in Julies Kopf ein wie ein schlechter Traum. Pieter packte das Kind blitzschnell an den Haaren, drückte es mit der einen Hand auf die Knie, während er sich mit der anderen an seiner Hose zu schaffen machte.
Julie wollte laut schreien, brachte aber keinen Ton heraus und schlug sich nur vor Entsetzen die flache Hand vor den Mund. Sie spürte, wie die Kisten unter ihr ins Wanken gerieten und sprang instinktiv zur Seite, um nicht zu stürzen. Schnell drückte sie sich mit dem Rücken an die Hauswand und lauschte. Hoffentlich hatte Pieter das Gepolter nicht gehört! Sie wartete einen Augenblick, aber niemand kam, um nachzusehen. Hektisch überlegte sie, was sie tun sollte. Sie konnte das Mädchen da oben nicht seinem Schicksal überlassen, wusste aber, dass es keinen Zweck hatte, dazwischenzugehen. Pieter – wer wusste, was er tun würde, wenn Julie ihn auf frischer Tat ertappte?
Hastig rannte sie um das Gästehaus herum. Ihr Blick fiel auf das Gatter der Nutztiere, die leise im Dunkeln grunzten. Die Schweine! Julie rannte zum Gatter, riss es auf und brachte mit ein paar hektischen Armbewegungen die Tiere in Bewegung, die sogleich lauthals quiekend die Chance zur Freiheit nutzten. Dann stürzte Julie in Richtung Plantagenhaus, rannte über die hintere Veranda und durch den dunklen Flur in den Damensalon. Von hier aus konnte sie beobachten, was geschah. Erleichtert sah sie, dass ihre Idee Früchte trug. Durch das laute Gequieke aufgeschreckt, wurden auch die anderen Tiere unruhig, und schon sehr bald kamen die ersten Männer aus dem Sklavendorf mit
Weitere Kostenlose Bücher