Im Land der Orangenbluten
Rozenburg. Karl oder gar Julie kamen in diesen Überlegungen allerdings nie vor. Julie schob dies auf Martinas naive Vorstellung, sie schien ihr häufig doch etwas weltfremd. Manchmal allerdings überkam sie tatsächlich die Angst, es könnten schon Absprachen getroffen worden sein, von denen sie nichts wusste. Nicht dass Karl in den Ruhestand zu seiner surinamischen Ehe zog und Julie ihr Dasein als Alibifrau und alternde Strohwitwe einsam und allein im Stadthaus fristete ... oder gar unter der Fuchtel von Pieter auf der Plantage.
Julie seufzte. Bis dahin blieb immerhin noch Zeit.
Die Frauen saßen wieder beim Tee in Valeries Damensalon und ließen sich von Ivon diverse Muster für Blumengestecke und Tischdekorationen vorführen. Julie kam nicht umhin, die dargebotenen Sachen für durchaus geschmackvoll zu befinden. Valerie und Martina hingegen taten sich schwer mit einer Entscheidung, und somit zog sich die Prozedur in die Länge.
Julie rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Riard hatte angekündigt, am Abend eine Überraschung für sie zu haben. Sie war gespannt und freute sich auf seine Gesellschaft.
Nachdem die Blumenbuketts endlich zur Zufriedenheit aller abgehandelt waren, entschuldigte sie sich eilig und ließ sich von einer Droschke zurück ins Stadthaus bringen. Kiri hatte am Nachmittag sorgfältig Julies Lieblingskleid geplättet, und als Julie nun in ihr Schlafzimmer kam, stand dort bereits eine Schale mit Rosenwasser zur Erfrischung bereit. Julie gab sich besonders viel Mühe, hübsch auszusehen. Für den jungen Buchhalter? Vielleicht. Ein Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sich im Spiegel betrachtete. Seit ihr bewusst geworden war, dass ihre Ehe eine reine Farce war, genoss sie die Begegnungen mit Riard noch mehr. Warum sollte sie sich nicht auch etwas amüsieren dürfen in der Stadt? Die Zeit auf der Plantage würde wieder lang genug werden.
»Kiri, du hast heute Abend frei«, beschied sie das Mädchen und wartete dann aufgeregt, dass Riard sie abholte.
Er fuhr mit ihr zu einer Parkanlage nahe des Gouverneurpalastes. Die Gärten hier waren besonders prachtvoll und verströmten am Abend einen betörenden Duft. In der Parkanlage selbst gelangten sie nach einem kurzen Spaziergang zu einem kleinen Freilufttheater. Mehrere Tische und Stühle standen zu einer Bühne ausgerichtet, rundherum brannten Fackeln, und schwarzes Personal in europäischer Dienertracht trug Sektkühler und Kanapees zu den Tischen, an denen nun immer mehr Menschen Platz nahmen.
»Oh, was ist das denn hier?« Julie war beim Anblick dieses Arrangements ganz entzückt. »Ein Theater unter freiem Himmel?«
Der junge Mann nickte stolz. Er führte sie zu einem Tisch mit zwei Stühlen und bot ihr an, Platz zu nehmen. Kurz darauf nippte Julie bereits an einem Glas Champagner und wartete gespannt, was auf der Bühne passieren würde. An den Tischen rundum saßen einige weiße, aber auch einige schwarze Besucher. Das waren vermutlich sogenannte »Freie « , denn Sklaven war der Besuch solcher Veranstaltungen untersagt.
Julie versuchte seit ihrer Ankunft in der Stadt, das komplizierte soziale Geflecht um die Hautfarben herum zu durchschauen: Je nach Abstufung der Farbe gab es deutliche Standesunterschiede. Je dunkler die Haut, desto niedriger der Stand, das war nicht schwer zu begreifen. Andererseits gab es durchaus auch freie Schwarze in der Stadt und wiederum viele Weiße, die sich für einfache Tätigkeiten nicht zu schade waren. Diese allerdings standen dann im Ansehen der wohlhabenden Kolonialgesellschaft nicht sehr hoch.
Als der Vorhang sich lichtete, trat eine junge Mulattin hervor und begann zu singen. Alsbald tauchten mehrere Schauspieler auf der Bühne auf, sangen oder sprachen einen Text, woraus sich eine Geschichte entspann. Julie verstand zwar nicht den gesamten Text, der aus einem Gemisch von Französisch und Negerenglisch bestand, aber die Bilder sagten mehr als Worte. Es ging um Liebe, Verrat und Eifersucht – und am Ende gab es eine rührende Versöhnung. Julie war ganz benommen und fühlte sich überglücklich. Um sie herum war es inzwischen tiefste Nacht geworden, und nur die Fackeln und der Mondschein erhellten noch die Gesichter der Zuschauer.
Im Feuerschein bemerkte Julie, dass Jean Riard sie belustigt anschaute. Ihr wurde bewusst, dass sie sich die ganze Aufführung über nur auf das Schauspiel konzentriert hatte. Nachdem jetzt der Applaus verebbte und nochmals Getränke gereicht wurden, sah sie ihn
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